Wie verändert(e) die Pandemie unser Zusammenleben? Welche zivilgesellschaftlichen Potenziale erfuhren wir in der Krise? Wie ging es NGOs im Lockdown? Wie verhalten wir uns gegenüber den Corona-Protestbewegungen? Nicht zuletzt: Welche Wege neuer Nachbarschaften sowie der Stadtteilarbeit sind zukünftig denkbar im Sinne resilienter Gesellschaften und was können wir als NGOs zur Überwindung von Polarisierungen beitragen? Diesen Fragen stellten wir uns in einem als Zukunftswerkstatt angekündigten Workshop am 18. Juni 2021 in der Robert-Jungk-Bibliothek im Rahmen eines von der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung geförderten Projektes. Im ersten Teil des Workshops ging es um Erfahrungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie des freiwilligen Engagements im Kontext der Pandemie. Im zweiten Teil um die Rolle der Zivilgesellschaft im Diskurs um die Corona-Maßnahmen. Hier ein Bericht.

Hans Holzinger:  Aus der Krise lernen für eine aktive Zivilgesellschaft
Die Pandemie hat unseren Alltag stark verändert. Mehrere Lockdowns führten zu einer Einschränkung der wirtschaftlichen Aktivitäten sowie des sozialen Lebens. Anfangs gab es viel Solidarität in den Nachbarschaften. Menschen sorgten füreinander, wenn jemand an Corona erkrankte bzw. in Quarantäne musste. Die Akzeptanz gegenüber den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus war hoch. Mit Fortdauer der beschränkenden Maßnahmen wuchs aber auch der Unmut – und es formierten sich zusehends Proteste. Dabei ging es nicht immer um die Sorge um die Freiheit und den Erhalt der demokratischen Grundrechte. Corona führte zu Polarisierungen in der Gesellschaft, die sich im Pro und Contra zu den anlaufenden Impfungen fortsetzten. Zudem wirkte die Pandemie wie ein soziales Brennglas und ließ gesellschaftliche Benachteiligungen, die bereits vor der Krise da waren, nun aber stärker hervortreten, so Hans Holzinger von der JBZ einführend. Ob die Pandemie nur Sommerpause mache oder zu Ende gehe, wissen wir nicht. Gewiss sei jedoch, dass aus der Krise gelernt werden kann und dass andere Krisen wie die menschengemachte Klimaerwärmung kein Zurück zum „Davor“ nahelegen.

Barbara Wimmer-Stöllinger: Corona im Stadtteil – was können wir tun?
Barbara Wimmer-Stöllinger,
 Leiterin der Stadtteil- und Quartiersarbeit im Diakoniewerk Salzburg und Bewohnerservice Aigen & Parsch, schilderte das breite Engagement von Freiwilligen im ersten Lockdown, um jene zu unterstützen, die Hilfe brauchten. Aufgabe der Bewohnerservice-Stellen sei es gewesen, Freiwillige und Hilfesuchende zusammen zu bringen. Als zentrale Herausforderungen durch die Pandemie nannte Wimmer-Stöllinger das Wegfallen von persönlichen Treffen, die Koordinierung des besonderen Unterstützungsbedarfes für Gruppen wie Demenzerkrankte oder Gehörlose, das Bereitstellen von trotz Pandemie möglichen Freiraumaktivitäten und die Unterstützung von weniger mit digitalen Technologien vertrauten Menschen. Laut einer im Vortrag zitierten Umfrage klagte in der Zeit der Lockdowns in Österreich jeder 10. Mensch über Einsamkeit und Isolation. Die Bewohnerservice-Stellen versuchten mit aktivierenden Maßnahmen Abhilfe zu schaffen. Als Beispiele nannte Wimmer-Stöllinger die von Ehrenamtlichen umgesetzte Mittagstischzustellung, Angebote wie „Gemeinsame Spaziergänge“, „Plaudern beim Tag der Nachbarschaft“ oder „Radeln ohne Alter“. Deutlich sei geworden, dass das Potenzial ehrenamtlichen Engagements mit Unterstützung einer entsprechenden Infrastruktur wie dem Freiwilligennetzwerk oder den Bewohnerservice-Stellen tatsächlich besser genützt werden kann. Als Lehren aus Corona nannte Wimmer-Stöllinger die Wichtigkeit von öffentlichen Räumen, von Möglichkeiten des Miteinander-Aktiv-Werdens und der Nutzung von digitalen Technologien für die Kommunikation auch nach der Pandemie. Download Folien

Juliane Rettenbacher: Corona am Land – Erfahrungen mit sozialem Engagement
Juliane Rettenbacher
führt mit ihrem Mann in St. Koloman einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Bio-Rindern, deren Fleisch über den Hofverkauf vertrieben wird. Zudem bietet sie ein Catering-Service für Unternehmen und Vereine. Schon vor Corona haben sich in dem Ort mehrere direktvermarktende Betriebe zusammengeschlossen und mit dem „Taugler Körberl“ einen Online-Vertrieb gestartet. Das Ziel war, den aufgelassenen Nahversorger zu kompensieren und den Bezug regionaler Produkte zu fördern. In der Pandemie sei die Gemeinde auf die Initiative zugekommen, den Bestellservice auszubauen, um auch Menschen ohne Internetzugang den Bezug der Produkte zu ermöglichen, so Rettenbacher, Obfrau des Taugler Körberls. Bestellungen konnten nun auch telefonisch durchgeführt werden, die Gemeinde übernahm mit den aufgrund des Lockdowns nicht für den Schülertransport benötigten Schulbussen die Zustellung. Jede Krise berge eine Chance, regionale Versorgung werde den Menschen wichtiger, meinte Rettenbacher, die in der Pandemie mit dem Tennengauer Wandermarkt ein weiteres Angebot auf die Beine gestellt hat. Zusammengeschlossene Direktvermarkter bieten in mehreren Orten des Tennengaus einen periodisch wechselnden Bauernmarkt an.

Andrea Thuma: Polarisierungen verstehen und überwinden
Nach diesen praktischen Beispielen zivilgesellschaftlichen Engagements in der Pandemie ging es im zweiten Teil des Workshops um den Umgang von NGOs mit den zunehmenden gesellschaftlichen Spaltungen durch Corona.  DiePolitikwissenschaftlerin und angehende Mediatorin Andrea Thuma gab in ihrem Referat Empfehlungen für den Umgang bzw. die Überwindung von Polarisierungen. Polarisierungen würden an Bedeutung gewinnen, wenn Menschen starke Unsicherheit verspüren, wie durch die Pandemie, so Thuma. Die fehlende Möglichkeit, eine Situation selbst beeinflussen zu können, mache Menschen empfänglicher für einfache Antworten und Lösungen. Um hier zu einer Verständigung zu kommen, brauche es eine nichtwertende, fragende Gesprächskultur, die Kontaktaufnahme und Kommunikation ermöglicht, auch wenn man anderer Meinung sei. Zudem gehe es um die Förderung von Zuversicht, um positive Gegenerzählungen zu den kursierenden Weltuntergangsszenarien sowie um die Macht der emotionalen Ansteckung für positive Zukunftsbilder.

Corona und zivilgesellschaftliches Engagement
Hans Peter Graß, Leiter des Friedensbüros Salzburg, nannte mehrere Probleme, die sich für NGOs durch die Pandemie ergeben haben. Bildungsangebote waren stark eingeschränkt, etwa gab es keine Workshops in Schulen, weiters habe „Corona“ alle anderen Themen aus der Öffentlichkeit verdrängt, nicht zuletzt sei es innerhalb zivilgesellschaftlicher Bewegungen zu Differenzen über die Einschätzung der Corona-Präventionsmaßnahmen gekommen. Dissens-Fähigkeit sowie die Aufrechterhaltung des Dialogs auch mit jenen, die sich gegen die Schutzmaßnahmen stellten, bezeichnete Graß als wichtig. Zudem gehe es aber darum Haltung zu zeigen und sich klar von jenen abzugrenzen, die die Anti-Corona-Demos für ihre Zwecke missbrauchen oder eindeutig Verschwörungstheorien anhängen. Als Lehren aus der Pandemie nannte er die Arbeit mit neuen Zielgruppen und das Finden neuer Formate jenseits des klassischen Vortrags oder Workshops, etwa durch aktivierende Methoden im öffentlichen Raum.

Diskussion: Mehr öffentliche Räume für Austausch und Aktiv-Werden

In der anschließenden Diskussion wurde nochmals die Bedeutung von öffentlichen Räumen und die Schaffung von Möglichkeiten des Aktiv-Werdens betont. Die Pandemie habe Vereinsamungstendenzen in unserer Gesellschaft offengelegt, die bereits vor Corona ein Problem waren. Notwendig sei daher auch eine aktive Sozial- und Verteilungspolitik, die der Verarmung entgegenwirke. Eine Teilnehmerin nannte als innovatives Beispiel für leistbare Lebensmittel guter Qualität auch für Haushalte mit geringerem Einkommen das Projekt „FairNaWi“ (Fair und Naturangepasst Wirtschaften) in Wien, in dem Besserverdienende Kunden einen Fairness-Betrag an jene mit geringerem Einkommen zahlen. Arbeitszeitverkürzungen sowie innovative Arbeitszeitmodelle könnten ehrenamtliches Engagement für neue Zielgruppen attraktiver machen, wie Erfahrungen mit Kurzarbeit in den Lockdowns gezeigt hätten, so eine weitere vorgebrachte Idee.  Vorgeschlagen wurde auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Als Tenor kann festgehalten werden, dass Corona mehr Menschen wachgerüttelt hat und dadurch neue Räume für Veränderung entstanden sind. Vielleicht wäre eine Post-Corona-Gesellschaft als „Drei-Zeit-Gesellschaft“ denkbar:  ein Drittel Erwerbsarbeit für alle, ein Drittel Sorge- und Eigenarbeit für alle (Geschlechter) und ein Drittel ehrenamtliche Arbeit für alle!

Wir bedanken uns bei allen Mitwirkenden für die spannenden Inputs sowie die anregende Diskussion. Carmen Bayer gebührt Dank für die technische Unterstützung, die eine reibungslose Online-Abwicklung gewährleistet hat. Der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung danken wir schließlich für die Förderung. Porträtfotos (privat), Familie Rettenbacher (Bezirksblätter).