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Preisverleihung an Marianne Gronemyer

Der Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung 2011 erging an Frau Prof. Dr. Marianne Gronemeyer. Gronemeyer ist Erziehungswissenschaftlerin und Autorin zahlreicher gesellschaftskritischer Bücher. Die Preisverleihung durch Landeshauptfrau Mag. Gabi Burgstaller und der Festvortrag der Preisträgerin fand am 4. November 2011 ab 19 Uhr in der Bibliotheksaula der Universität Salzburg statt.

Begründung

  1. Das vornehmlich von den Naturwissenschaften produzierte „Verfügungswissen“ erfordert sein unbedingtes Gegenüber im „Orientierungswissen“ (Peter Kampits). Es darf nicht nur um die Frage gehen, was machbar ist, sondern es muss auch die Frage gestellt werden, was ethisch geboten ist und welche Zukunft wir wollen. Marianne Gronemeyer trägt durch ihr Insistieren auf den notwendigen Zweifeln gegenüber scheinbaren Gewissheiten zu diesem nie abgeschlossenen Suchprozess wesentlich bei.
  2. Tendenzen der Ökonomisierung von Wissenschaft und Bildung sind auch bei uns unübersehbar. Segmentiertes Detailwissen und das Postulat kurzfristiger Verwertbarkeit führen dazu, dass ganzheitliche Sichtweisen und Diskurse über „Grundsatzfragen“ (Peter Sloterdijk) zu kurz kommen – dies obwohl die Orientierungs- und Steuerungskrisen eklatant sind. Als Erziehungswissenschaftlerin hat sich Marianne Gronemeyer seit jeher gegen die Verzweckung von Bildung, aber auch gegen die Entertainisierung von Lernen gestellt. Durch ihre, das eigenständige Denken fördernde Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Wiesbaden hat sie zu dieser kritischen Bildungspraxis beigetragen; als vielgefragte Vortragende an Universitäten, Volkshochschulen oder in Gemeindesälen tut sie es immer noch.
  3. Zukunftsforschung widmet sich möglichen und wahrscheinlichen, erwünschten und unerwünschten Zukunftsentwicklungen. Aufbauend auf einer möglichst präzisen Erfassung der Gegenwart werden Szenarien für die Zukunft entwickelt und dabei treibende Kräfte (Pull- und Pushfaktoren) identifiziert. Marianne Gronemeyer hinterfragt durch ihr radikales Denken die Prämissen unserer Vorstellungen von Fortschritt und bereichert so auch die kritische Zukunftsforschung.
  4. Unser materieller Wohlstand hat uns (vordergründig) viele Annehmlichkeiten beschert: die Knappheiten, die frühere Generationen noch kannten, sind überwunden. Wir können uns vieles leisten, was unseren Eltern oder Großeltern noch unvorstellbar war. Doch dieser Wohlstand hat auch Schattenseiten: Er fußt auf einer nicht dauerhaften Energiebasis; er geht einher mit einem enormen Raubbau an den begrenzten Naturressourcen; er ist erkauft mit der Ausbeutung von Menschen in den so genannten Entwicklungsländern; und er führt auch bei uns zu sozialen Ausgrenzungen und Brüchigkeiten. Die Angst nicht mehr mithalten zu können, zunehmende psychische Belastungen in der Arbeitswelt, Phänomene der Über- und Unterforderung sind bekannte Krisenphänomene. Zeit und Aufmerksamkeit werden zu neuen Knappheiten. Präzise wie kaum jemand beschreibt Marianne Gronemeyer diese Fallen der modernen Konsumgesellschaft und die Komplizenschaften, in die sich jeder verstrickt, der an ihr teilnimmt.
  5. Das ökonomische Wachstumsparadigma wird brüchig: die zunehmende Konzentration der Vermögen bei einigen wenigen, die Aufspaltung des Arbeitsmarkts in Gewinner und Verlierer, die Verknappung der begrenzten Naturressourcen, aber auch die verringerte Notwendigkeit des Wachsens in materiell gesättigten Wohlstandsgesellschaften erfordern neue Antworten. Neuverteilung der Produktivitätsfortschritte und des Steueraufkommens, neue Arbeitszeitmodelle oder eine umfassendere Messung von Wohlstand gelten als Zukunftspfade. Marianne Gronemeyer kritisiert ebenfalls das Wachstumsmodell, sie geht aber noch einen Schritt weiter, wenn sie für eine generelle Zurückdrängung der Arbeits- und Geldgesellschaft plädiert.
  6. Durch ihre kritische Auseinandersetzung mit der modernen Konsumgesellschaft und ihrem Pendant – der Arbeitsgesellschaft – verweist Gronemeyer, ohne dass sie explizit diesen Begriff verwendet, auf die Jahrhundertherausforderung Nachhaltigkeit. Sie benennt aber nicht nur die ökologischen Zerrüttungen, die das industrielle Wirtschaften hervorruft, sondern auch die sozialen und kulturellen Verarmungen – den Verlust an Daseinsmächtigkeit, Autonomie und Lebendigkeit.
  7. Große Hoffnungen werden angesichts der zunehmenden Krisenphänomene in die Zivilgesellschaft und in die an Bedeutung und Zahl zunehmenden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gesetzt. Sie gelten als kritischer Stachel ebenso wie als Wegbereiter von Neuansätzen, die – zunächst in Nischen erprobt – zu alternativen Lösungswegen führen sollen. Marianne Gronemeyer unterstützt in wohlwollend-kritischer Sympathie die sozialen Bewegungen und NGOs und ordnet sich wohl selbst dieser Zivilgesellschaft zu. Gemeinsam mit Robert Jungk war sie aktiv in der Friedensbewegung und den Protesten gegen das nukleare Wettrüsten; mehrere Jahre war sie tätig im Vorstand von Greenpeace Deutschland. Gronemeyer warnt aber auch vor hektischem Aktivismus sowie vor zu viel Pragmatismus. Die Kraft des Sich-Entziehens, das Einfach-nicht-mehr-Mitmachen, das Auf-Distanz-Gehen zu den Verführungen des Konsums wie der Macht sieht sie als genuin politischen Akt.
  8. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen: Marianne Gronemeyer formuliert scharf, sie spitzt zu und provoziert. Man muss ihr nicht in allem folgen – das wäre wohl gar nicht in ihrem Sinn –, ihre Thesen, ihre Wahrnehmungen, ihre historischen wie aktuellen Verweise, ihre Bezüge auf andere kritische Denker/innen wie Hannah Arendt, Günter Anders, Pier Pao Pasolini oder insbesondere Ivan Illich sollen jedoch eines erreichen: dass wir selber beginnen, die Selbstverständlichkeiten unsere Moderne kritischer zu hinterfragen. Sich akkumulierende Krisenphänomene von der verschärften Kluft zwischen Arm und Reich über die ökonomische wie ökologische Verschuldung bis hin zur Nichtbeherrschbarkeit neuer Technologien wie die Atomspaltung legen dies nahe.

Bericht „Gastliche Orte schaffen“
Zukunftspreisträgerin Marianne Gronemeyer über das „Abseits als wirtlichem Ort“
Von Hans Holzinger

Marianne Gronemeyer gilt als scharfsichtige Kritikerin unserer auf oberflächliche Zerstreuungsangebote fixierten Konsum- und Eventgesellschaft. Wie niemand vor ihr hat sie die Versäumnisangst des modernen Menschen herausgearbeitet, dargestellt in Büchern wie „Das Leben als letzte Gelegenheit“ oder „Genug ist genug. Die Kunst des Aufhörens“. Die Erziehungswissenschaftlerin an der Fachhochschule Wiesbaden – eines ihrer Bücher widmet sich der Schule und trägt den provokanten Titel „Lernen mit beschränkter Haftung“ – gilt auch nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit (Emeritierung im Jahr 2006) als begehrte Vortragende.

Am 4. November 2011 erhielt Marianne Gronemeyer den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung, der alle drei Jahre auf Vorschlag der Robert-Jungk-Stiftung (Bibliothek für Zukunftsfragen) vergeben wird. Sie liege quer zum herkömmlichen Fortschritts- und Wachstumsdenken, das Rechte wie Linke bei allen sonstigen Unterschieden wohl gemeinsam hätten, und sei daher auch für die Zukunftsforschung ein notwendiger kritischer Stachel, so Klau Firlei, Präsident der Robert-Jungk-Stiftung, in seiner Laudatio über die Preisträgerin.

Trügerische Bequemlichkeitsversprechen

In ihrem Festvortrag in der bis zum letzten Platz gefüllten Bibliotheksaula der Universität Salzburg verwies Gronemeyer auf die drei großen Bestimmungskonstanten der heutigen Welt: die Ökonomie als unhinterfragte „Weltregelungsinstanz“, die Naturwissenschaften als „Weltdeuter“ und die Technik als omnipotenter „Weltgestalter“. Auf der Strecke bleibe dabei immer mehr der Mensch, der im Effizienzdenken zur Nummer, zur Kontoziffer oder zum bearbeitbaren Mängelwesen degradiert werde. Am Beispiel Schule: Früh würden Kinder auf Konkurrenz getrimmt, Neugier und Interesse würden abgetötet – „Enthusiasmus interruptus“ sei das Ergebnis. Lernen und Entwicklung würden jedoch nur gedeihen in einem Klima des Vertrauens und Zutrauens.

Die „Bequemlichkeitsversprechen der modernen Wirtschaft“ werden, so Gronemeyer weiter, um den Preis der Unfreiheit erkauft, Arbeit, die in der Lage ist, Sinn zu geben, die des „Tuns wert ist“, werde zur Mangelerscheinung. Die „Eleganz der Macht“ in der konsumistischen Gesellschaft bestehe jedoch darin, dass wir diesen Freiheitsentzug gar nicht mehr wahrnehmen. Bedürfnisse seien das, „was wir wollen dürfen, erlaubtes Wollen“.

Nahbereichserfahrungen als Chance, Zuständigkeit zurückzugewinnen

Was kann, was muss getan werden? Gronemeyer äußerte sich skeptisch gegenüber allen großen Weltveränderungsappellen. Vielmehr gelte es zu erkennen, dass „die Reichweite unseres Wirken-Könnens viel geringer ist als die des Bewirkt-Werdens.“ Die Mediengesellschaft, in der eine „Betroffenheitsschlagzeile die nächste jagt“, helfe da nicht weiter, lenke nur ab. Notwendig sei, Zuständigkeit zurückzugewinnen, was nur durch „Nahbereichserfahrungen“ möglich sei. Verantworten könnten wir nur das, was „in der Reichweite unseres Entscheidens“ liege, alles andere sei eine „angedrehte Verantwortung“, die abzuweisen ist.

In diesem Sinne plädierte Gronemeyer für das „Abseits als wirtlichem Ort“. Wir könnten uns Räume tatsächlicher Freiheit schaffen. Wer an die Allmacht des Systems glaube, so die Autorin, sei bereits verloren. Sich zu entziehen, wo immer das möglich ist, sei in einer „vom immer Mehr gepeitschten Gesellschaft“ eine Haltung des Widerstands. Und wir sollten dies nicht tun im Glauben, die Welt zu retten, sondern weil es uns selber gut tut.

Sich-Entziehen als Akt des Widerstandes

Nun gestand Gronemeyer wohl zu, dass dieses Sich-Entziehen nicht immer leicht und auch nicht immer möglich sei, doch gehe es um die schrittweise Verringerung der Abhängigkeit etwa von sinnentleerter Arbeit und damit auch von der Geldökonomie. Wieder mehr miteinander und füreinander zu tun, sei klüger, als an der Wachstumsmanie teilzuhaben. Es gehe um „Fürsorge statt Vorsorge“, auch wenn die Konsumgesellschaft das Gegenteil verlange. Zugehörigkeit unter Jugendlichen hänge ja, so ein Eltern wie PädagogInnen sehr bekanntes Beispiel, mittlerweile viel mehr vom Neuigkeitswert des eigenen Handys oder iPhones ab als von menschlichen Bindungen.

Zur Vorsicht mahnte die Autorin daher auch gegenüber sozialstaatlichen Integrationsbemühungen, denn diese würden immer von der Frage nach der „Integration wozu und wohin?“ abhängen. Nicht „Teilhabe“, sondern „Teilgabe“ müsse das Ziel sein, denn Menschen würden ihren Wert darin finden, dass sie einander etwas geben und nicht, in dem sie mit Gütern „versorgt“ werden.

Gronemeyers Überzeugung, dass „wirtliche Orte“ nur im Nahfeld und nur jenseits der kommerzialisierten Konkurrenzgesellschaft entstehen können, hat etwas Plausibles. Sie entspringt der Utopie der kleinen Gruppen, die sich (für sich) neue Lebenswirklichkeiten schaffen – sei es in alternativen Wohn- und Arbeitsformen, in der Rückbesinnung auf (zumindest stückweise) Selbstversorgung, in der Aufwertung aller häuslichen Tätigkeiten. Da wir mittlerweile jedoch in sehr arbeitsteiligen Strukturen leben und gesellschaftliches Zusammenleben immer auch Institutionen und Regeln erfordert, wie eine Diskussionsteilnehmerin einbrachte, bleibt es letztlich Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen und Institutionen zu schaffen, die allen Chancen auf Teilhabe und Teilgabe bieten und ein „gastliches Klima“, von dem Gronemeyer sprach, ermöglichen. Dass hierfür andere Paradigmen für Wirtschaften, Wohlstand und Lebensqualität nötig sind, versteht sich von selbst.

Am Tag der Preisverleihung war Gronemeyer auch Gast in der Ö1-Sendung „Von Tag zu Tag“ mit Elfie Geiblinger. Bezug über das Ö1-Download-Abo möglich.

 

Über Marianne Gronemeyer
Ein Porträt von Hans Holzinger

Marianne Gronemeyer wurde 1941 in Hamburg geboren, war acht Jahre Lehrerin an einer Haupt- und Realschule, absolvierte ein Zweitstudium der Sozialwissenschaften an den Universitäten Hamburg, Mainz und Bochum. Ihre Dissertation trägt den Titel „Motivation und politisches Handeln“ (Hamburg, 1976).

Von 1971 bis 1977 betrieb sie Friedensforschung an der Universität Bochum im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung, die in die Habilitationsschrift „Die Macht der Bedürfnisse“ (Reinbek, 1988) mündete. Bis 2006 war sie Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Wiesbaden.

Marianne Gronemeyer gilt als radikale Kritikerin der modernen Konsumgesellschaft sowie der Versäumnisangst des modernen Menschen. Sie ist bekannt durch Bücher wie „Das Leben als letzte Gelegenheit“ oder „Genug ist genug. Die Kunst des Aufhörens“. Als viel gefragte Vortragende sieht sie ihre Aufgabe darin, scheinbar selbstverständliche Gewissheiten zu hinterfragen, zum Nachdenken anzuregen, zu provozieren. Diese Position der kritischen Dissonanz bestimmt auch ihr wohlwohlend-kritisches Verhältnis zur Zivilgesellschaft. Gronemeyer war mehrere Jahre im Vorstand von Greenpeace Deutschland, warnt aber vor hektischem Aktivismus.

Im Folgenden sollen zentrale Positionen des Denkens von Marianne Gronemeyer vorgestellt werden.

Bildung als nicht-erzieherisches Gespräch

Als Erziehungswissenschaftlerin verwehrt sich Marianne Gronemeyer gegen die Ökonomisierung des Bildungs- und Wissenschaftsbetriebs sowie gegen die Didaktisierung des Lebens, wie sie in „Lernen mit beschränkter Haftung“ (1997) darlegt. Ernsthaftigkeit im Denken könne nicht durch häppchenweise Aufbereitung von Lerninhalten erreicht werden.

Marianne Gronemeyer schlägt das nicht-erzieherische Gespräch vor: Dieses verzichtet auf den Konsens als Ziel, will den anderen weder manipulieren noch sonst wie beeinflussen und verändern, sondern ist daran interessiert, durch genaues und sorgfältiges Zuhören die Differenzen, die unterschiedlichen Auffassungen und Sichtweisen herauszuarbeiten und gelten zu lassen. Ein Prinzip, das sie in ihrem eigenen Handeln als Lehrende immer wieder praktiziert hat.

In Fortführung des kritischen Denkens etwa des Philosophen Günter Anders oder des Entwicklungskritikers Ivan Illich plädiert Gronemeyer für ein permanentes Hinterfragen unserer Wirklichkeiten. Sie setzt auf die produktive Kraft des Zweifels, auf die Notwendigkeit des Sich-Entziehens. Häufig gehe es nicht darum, das Richtige zu tun, sondern etwas nicht zu tun („Kunst des Unterlassens“).

Die Macht der Bedürfnisse

Wie Günter Anders, Ivan Illich, der Psychoanalytiker Erich Fromm oder der Ökologe Wolfgang Sachs setzt sich Marianne Gronemeyer kritisch mit der künstlichen Schaffung von Bedürfnissen auseinander. So trägt das erste Buch der Autorin den Titel „Die Macht der Bedürfnisse“ (1988, Neuaufl. 2002).

„Wir glauben, die Welt werde nach unseren Bedürfnissen eingerichtet, tatsächlich richten sich unsere Bedürfnisse jedoch nach der Welt. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, aber: Je größer der Überfluss, desto bedürftiger die Menschen“, so die Überzeugung der Autorin. Marianne Gronemeyer unterscheidet die „falschen Bedürfnisse“, die nur dazu dienen, die Produktionsmaschinerie auf Hochtouren zu halten, von den „wahren Bedürfnissen“, die sukzessive verdrängt werden.

Sich der Konsumgesellschaft zu entziehen und sich zu besinnen auf die unmittelbaren Lebensbedürfnisse – etwa die Zubereitung von Nahrung oder das Erleben von Gemeinschaft – sieht Gronemeyer als wichtigsten Akt des Widerstandes gegen das ökologisch und sozial nicht zukunftsfähige Wachstumsmodell.

Versäumnisangst und die Unfähigkeit zur Präsenz

Die Kritik an der Konsumgesellschaft verbindet Marianne Gronemeyer wesentlich mit dem wenig erforschten Thema der Versäumnisangst des modernen Menschen sowie der Verdrängung der Sterblichkeit in unserer Kultur. Zwei Aspekte, die insbesondere Im Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“ (1993) ausgeführt werden. Möglichst viele „Weltofferte“ in das begrenzte Leben hineinzustopfen, sei jedoch ein untaugliches Mittel. Unsere Welt wird schneller, aber wir fühlen uns immer entleerter und leiden an Stress, Hektik und einem Überangebot an Welt. Wir sind nicht mehr gegenwärtig und kranken an Erfahrungsarmut, so die Diagnose der Sozialwissenschaftlerin, die von der „Unfähigkeit zur Präsenz“ spricht.

In der „Beschleunigung des Lebenstempos“, im „Beschleunigungsimperativ“ sieht Gronemeyer ebenfalls einen untauglichen Versuch, der Endlichkeit unseres Daseins ein Schnippchen zu schlagen. Die Autorin spricht von der „Illusion, durch Zeitersparnis Freiheit zu gewinnen“, vielmehr führe der Geschwindigkeitswahn zu Weltschwund und Erfahrungsverlust, dem auch die „Tilgung der Entfernung“ durch die modernen Fortbewegungsmittel nicht abhelfen könne. Leben erfordere vielmehr Verortung, Präsenz, Gegenwärtigkeit.

Innovationsfieber und Wiederholungswahn

Dies führt zu einem weiteren Thema der Autorin, den Antipoden Innovation und Dauerhaftigkeit, denen sie in „Innovationsfieber und Wiederholungswahn“ (2000) nachgeht. Die Phänomene „Wiederholung“ und „Erneuerung“ sieht Gronemeyer als die beiden Grundfiguren und Gestaltungsprinzipien menschlicher Lebensäußerungen. Sie beschreibt die menschliche Existenz im Spannungsfeld zwischen der „wohltätigen Fiktion“ der Wiederholbarkeit von Ereignissen und Erlebnissen (wie z. B. in den Erinnerungen, in den Gewohnheiten, im Rhythmus der Musik oder in den alltäglichen Zukunftserwartungen vom Gleichauf der Gestirne) und der „Vergötzung“ der Erneuerung, der Innovation, des Neubeginns, der Veränderung, des Bruchs mit dem Alten, des Verfalls, der Originalität, der Singularität und der Nichtwiederholbarkeit (wie z.B. in den rasanten Innovationsprozessen in Technik, Naturwissenschaft, Medizin oder Wirtschaft).

Die Kunst des Aufhörens

In ihrem bislang letzten Buch „Die Kunst des Aufhörens“ (2008) bringt Gronemeyer ihre Analysen über unsere Konsumgesellschaft sowie das Dilemma des leichtfertigen Redens über die Notwendigkeit von Veränderungen auf den Punkt: Sie spricht von vielen kleinen „persönlichen Schluss-damit-Projekten“, die wir uns vornähmen. Die eine höre mit dem Fleischessen auf, der andere steige aufs Fahrrad um. Im Grunde wüssten wir jedoch, dass diese „kleinen Triumphe über den inneren Schweinehund“ letztlich Ausflüchte seien, die „ein bisschen richtiges Leben im falschen ermöglichen“ sollen. Der großen ökologischen Herausforderung, der radikalen Begrenzung des Ressourcenverbrauchs, stellen wir uns so nicht, meint Gronemeyer. Doch sie betrachtet auch die Aufhörappelle der Kritiker des Weiter-So mit Vorsicht: „Sie dienen mir eine Verantwortung an, die ich nicht tragen kann, weil das, was ich verantworten soll, überhaupt nicht in meiner Verfügungsgewalt ist.“ In diesem Dilemma sieht die Autorin den Grund dafür, dass „Einsicht und Tun weit auseinanderdriften, dass also die Einsicht über das Handeln keine wirkliche Macht hat.“ Die Sorge sei daher kein hilfreiches Motiv für Veränderung. Doch was ist es dann? Gronemeyer nennt die einfache Erkenntnis, „weil genug genug ist“, dann „entwirren sich die Dinge auf erstaunliche Weise. Das Aufhören hört auf, zu etwas gut sein zu müssen.“ (alle Zitate S. 151)

Arbeit und Tätigsein

In ihrem für 2011 geplanten neuen Buch stellt sich Gronemeyer der Frage „Welche Arbeit braucht der Mensch?“ Es gebe zwar noch gute Arbeit, aber nicht für Geld, so die Sozialwissenschaftlerin provokant in einem Vortrag vorab zum Thema (nach: http://www.halleforum.de/Halle-Nachrichten/Welche-Arbeit-braucht-der-Mensch/19986)  “Gute Arbeit” sei solche, die nicht schadet, sondern nützt. “Wer nicht arbeitet, schädigt die Welt weniger.” Denn wer arbeite, stelle seine Arbeitskraft in den Dienst des großen “Weltverbesserungsprojekts“ der Moderne. Und eben jenes wolle in Wahrheit unsere Lebensgrundlagen vollständig zerstören. Es sei an der Zeit, über Alternativen nachzudenken. Zum Beispiel Eigenarbeit. Jeder produziert das, was er selbst braucht. Ein deutlicher Unterschied zur Erwerbsarbeit, bei der man abhängig von dem ist, was man als Entlohnung bekommt.

Radikales Umdenken ist laut Gronemeyer notwendig, um aus diesem Würgegriff herauszukommen. “Wir können die Freiheit nur zurückerlangen, wenn wir den Geldbedarf einschränken.” So ergänzt sie die Frage „Wie viel Arbeit braucht der Mensch?“ (in einem gleichnamigen Online-Aufsatz unter www.denk-doch-mal.de/node/64) durch die Frage „Wie viel Geld braucht der Mensch?“ Moderne Arbeit, auf die alle so scharf seien, dass sie zum obersten Bedürfnis avanciert ist, habe schwerwiegende Folgen für den arbeitenden Menschen: „Sie macht Zeit knapp, sie macht Menschen hilflos und bedürftig, sie macht Begehren maßlos, und sie bedroht den sozialen Frieden durch rücksichtslose Konkurrenz aller mit allen um die knappen Ressourcen.“ Weniger zu arbeiten, sei daher ein Gebot der Stunde.

Marianne Gronemeyers Bezug zu Salzburg und zur Robert-Jungk-Stiftung

Marianne Gronemeyer war schon vielfach zu Gast in Salzburg und hat auf Einladung unterschiedlichster Veranstalter ihre provokanten, zum Nachdenken anregenden Ansichten zur Diskussion gestellt, etwa bei den Goldegger Dialogen, an der Pädagogischen Hochschule oder bei der Pädagogischen Werktagung (den Vortrag „Von der Selbstbegrenzung zur Fähigkeit – von der Fähigkeit zur Selbstbegrenzung“ bei letzterer gibt es als CD, 2004).

1998 war sie in der Reihe „Zukunft in Diskussion“ zu Gast in der Robert-Jungk-Stiftung. Ihr Vortrag „Von der Illusion, durch Zeitersparnis Freiheit zu gewinnen“ sowie ein Interview zum Thema „Radikal ist, so wie die Dinge liegen, noch immer nicht radikal genug“ sind im Buch „Nachhaltig – aber wie? Wege zur Zukunftsfähigkeit“ der Robert-Jungk-Stiftung dokumentiert.

 

Pressereaktionen

Marianne Gronemeyer erhält Landespreis für Zukunftsforschung. Salzburg.at, 25. 10.2011 http://www.salzburg.at/themen/leben.html?nachrid=47919

Die Bedürfnisse zurückschrauben. Im Porträt: Marianne Gronemeyer erhält Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung 2011. Drehpunkt Kultur, 7.10.2011 http://www.drehpunktkultur.at/index.php?option=com_content&view=article&id=3557:die-beduerfnisse-zurueckschrauben&catid=87:im-portraet&Itemid=65

Zukunftspreis: Gegen Konsumzwang und moderne Trends. Vorausschauende Kritikerin erhält den Landespreis für Zukunftsforschung. In: Salzburger Fester, 24. 10. 2011 http://www.salzburger-fenster.at/redaktionell/3735-gegen-konsumzwang-und-moderne-trends.html

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