Der Jahrtausendmensch

Aus: Der Jahrtausendmensch. Bericht aus den Werkstätten der neuen Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt TB, 1976. S. 215-218

Nachwort: Und er bewegt sich doch

„Die geistige Vorarbeit, die zur Schaffung von Visionen und Konzepten einer humanen Gesellschaft geleistet werden muß, wird in Zeiten des Rückschlags, wie der gegenwärtigen, von besonderer Wichtigkeit. Die erlittenen Niederlagen können zur Entmutigung, sie können aber auch zu einer Verbesserung früherer Modelle führen, deren Fehler in den vorhergehenden Tests deutlich geworden sind. Ein hohes Maß von Selbstkritik, eine umfassendere Analyse der äußeren Schwierigkeiten, die Steigerung der Fähigkeit, Probleme zu lösen und Alternativen zu finden, nicht zuletzt aber der bewußte Einsatz der Hoffnung als unentbehrlicher und unerschütterlicher Antriebskraft der Veränderung charakterisieren heute alle Individuen und Gruppen, die nicht aufgegeben haben. (…) Angesichts dieser Lage stellt sich immer brennender die Frage, ob alle bisherigen Versuche, den gefährlichen Kurs der menschlichen Geschichte zu verändern, nicht zu schwach sind und zu spät kommen. Das ist eine berechtige Sorge, der man nicht mit unbegründeten Trostsprüchen begegnen kann. Dies um so weniger, weil die ersten deutlichen Mangelerscheinungen in der entwickelten Welt keineswegs, wie es anfangs wohl hier und dort aussah, zu einer ernsten Veränderung der Ansprüche und Lebensgewohnheiten geführt haben. Der ‘Energieschock’ scheint sehr schnell vergessen worden zu sein, und heute treibt man trotz aller Warnungen ‘business as usual’ zu inflationär angehobenen Preisen (und Profiten).

Bei genauerem Betrachten der Gesamtlage erweist sich aber dieses Bild als zu oberflächlich. Zwar haben sich die Beziehungen der Zeitgenossen zum Energieverbrauch tatsächlich nicht so dramatisch verändert, wie man annahm, aber eine ganze Reine von Maßnahmen, deren Wirkungen erst in den kommenden Jahren jedermann deutlich erkennbar werden dürfte, wurde eingeleitet.

(…) Noch ist es allerdings selbst denjenigen, die eingesehen haben, daß die bisherige Energieverschwendung gebremst werden muß, oft nicht möglich, ihre Erkenntnis in die Praxis umzusetzen, weil die notwendige Umstellung von energieverschwenderischen auf energiesparende Systeme nicht durch einzelne Verzichtleistungen ersetzt werden kann. Zahllose einschneidende Konsequenzen für Verkehr, Arbeitsplätze, Siedlungsformen wären da zu erwarten, die nicht in Monaten, sondern nur in Jahren oder Jahrzehnten zu bewerkstelligen sind.

Gewiß versuchen bei diesem Wandel, wie bei jeder grundlegenden Neuerung, die Kräfte der Beharrung mit besonderer Intensität das Alte zu verteidigen. Dabei tun sie oft so, als gäben sie den neuen Einsichten nach, während sie in Wahrheit echte Änderungen zu sabotieren versuchen. Aber das sind Rückzugsge- fechte, auch wenn die Kräfte, die eine fundamentale Wende zu verhindern versuchen, zur Zeit noch fast unüberwindlich scheinen. Aber sie sind nun einmal in die Verteidigung gedrängt.

(…) Es ist allerdings die Frage aufzuwerfen, ob eine reifere Menschheit neugeborenen gesellschaftlichen Konzepten nicht ebensoviel Schutz und Hilfe gewähren müßte, wie ihrem biologischen Nachwuchs. Würden sie und ihre Vorkämpfer mit Nachsicht und Zuneigung behandelt, statt belächelt, verleumdet und zerstört werden, läge den Arrivierten daran, das erst Tastende, Versuchende, noch Unsichere in seinen Anfängen zu schützen und zu unterstützen, weil sich dort vielleicht die künftige Antwort auf die eigenen ungelösten Probleme entwickelt, dann wäre in vielen Fällen Rettung möglich.

Aber so wie die Dinge heute noch stehen, werden wir uns bestenfalls nur mit ‘piecemeal salvation’ begnügen müssen, das heißt, es werden viele Krisen, Zusammenbrüche und Katastrophen oft erst dann aufgehalten werden, wenn sie bereits vermeidliche Opfer gekostet haben.

Es ist bitter zu denken, daß die Menschen neue Wege nur zu gehen wagen, wenn die Not sie dazu zwingt. Denn deshalb müssen Neuerungen größeren Stils oft unter denkbar schlechten Anfangsbedingungen erprobt werden, die zu zahlreichen Abstrichen und selbstverleugnerischen Konzessionen führen. Fast noch mehr als verfrühtes Mißlingen müssen neue Konzepte Verzerrung und Entstellung fürchten, die sie zu Karikaturen oder Monstren machen.

Es könnte allerdings auch geschehen, daß eine Menschheit, die ihre bisherigen Fehlleistungen in kritischen Situationen nicht nur genauer als bisher zu diagnostizieren versteht, sondern daraus auch therapeutsiche Rezepte zu entwickeln weiß, die zu erwartenden Leiden ohne schwere Operationen kurieren kann. Heute entwickelt sich – das ist in dem vorliegenden Buch bereits angedeutet worden – erstmals ein Wissen um große, dynamische Systeme und Subsysteme, ihre Anatomie, ihre Pathologie sowie die wechselvollen Bedignungen ihrer Existenz, das sowohl genau dosierte wie exakt gezielte Eingriffe ermöglicht.

Aber wie der Arzt weiß, daß er ohne die Mitarbeit und den Heilungswillen des Patienten nicht auf Erfolg rechnen kann, so werden auch diejenigen, denen das Überleben einer gefährdeten Menschheit anvertraut ist, sich die aktive schöpferische Teilnahme möglichst vieler lebendiger ‘Zellen’ in diesem System sichern müssen. Nicht Befehle und Zwangsprogramme, sondern nur Ratschläge und Empfehlungen werden die zu ‘Ärzten der Gesellschaft’ aufgestiegenen Politiker und Staatsmänner von morgen ausgeben könen. Die letzte Entscheidung über das künftige Schicksal der Menschheit liegt bei einem höherentwickelten ‘Jedermann’.“