Die JBZ stellt sich der Frage: Was kommt nach der Krise? (siehe dazu unsere neue Videoreihe). Der Nachhaltigkeitsexperte der JBZ Hans Holzinger plädiert in diesem Kommentar dafür, größer zu denken. Wohlstand neu zu verorten und wirtschaftlichen Erfolg anders zu messen, nennt er als Stichworte. Nicht zuletzt gehe es darum eine Ökonomie zu entwickeln, die für die Hungernden arbeitet, nicht für die Satten. Dafür würde er einen Wirtschaftsnobelpreis vergeben.
Das Coronavirus verändert die Welt. Es macht uns die Fragilität menschlichen Lebens sowie die Verwundbarkeit unserer Zivilisationen bewusst. Der medizinische Fortschritt hat uns in der Gewissheit gewogen, dass Krankheiten besiegt werden können. Nicht alle, aber immer mehr. Selbst bei Krebs sind die Heilungschancen stark gestiegen. Nun sind wir mit einem Virus, winzig klein und nicht sichtbar, konfrontiert, gegen das noch kein Gegenmittel gefunden ist. Und das Besondere an Viren ist, dass sie vor Gesunden nicht Halt machen. Wir kennen Epidemien zwar aus der Geschichte bzw. aus fernen Ländern, Ebola in Afrika oder SARS in Asien. Nun hat es auch uns in den Wohlstands- und Hochkonsumländern erwischt.
Wir erleben eine doppelte Abhängigkeit: zum einen von medizinischen Labors, die hoffentlich bald wirksame Medikamente finden; zum anderen sind wir voneinander abhängig in dem Sinne, dass sich alle an die vorgeschriebenen Maßnahmen halten, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen. Dazu kommt eine dritte Abhängigkeit, nämlich dass unsere Versorgungssysteme weiterhin funktionieren und die hochgradig arbeitsteilige Wirtschaft nicht zusammenbricht. Die Philosophin Marianne Gronemeyer spricht von „bedürftigen Mängelwesen“, zu denen wir durch unsere Fremdversorgungssysteme geworden sind.
Noch funktionieren die Versorgungswege. Wir haben genügend Lebensmittel, Wasser und Strom werden pünktlich geliefert, auch die Tageszeitungen. Und die Kommunikation und Information über virtuelle Kanäle erlebt geradezu einen Boom. Zu erwarten ist, da sind sich alle Wirtschaftsforschungsinstitute einig, dass der Gesundheitskrise eine Wirtschaftskrise folgen wird. Wenn ganze Wirtschaftszweige wegbrechen, wie etwa der Tourismus und die Gastronomie, dann trifft dies den Nerv gerade von Ländern wie Österreich, die stark davon abhängig sind, dass andere uns besuchen und hier ihr Geld ausgeben.
Die Regierungen haben rasch reagiert. Nicht nur mit Ausgangsbeschränkungen, der Schließung von Schulen und Universitäten, dem Zurückfahren des öffentlichen Lebens auf ein Minimum, sondern auch mit Stützungsmaßnahmen für Unternehmen und von der Krise wirtschaftlich stark betroffenen Bürgern und Bürgerinnen. Die Unterstützungsmaßnahmen sind notwendig. Wichtig ist aber auch, dass wir nicht einfach dorthin zurückkehren, wo wir vor der Krise waren.
Die Krise ist eine Chance, Dinge zu hinterfragen
Die Krise ist eine Chance, Dinge zu hinterfragen, die auch ohne Viruspandemie fraglich waren. Warum gibt es in unserer wohlhabenden Gesellschaft Menschen, die bis zur Hälfte ihres Einkommens dafür ausgeben müssen, um ihre Miete bezahlen zu können, während andere mit Immobilien Millionen einnehmen? Warum verdienen Manager – und auch manche Managerin – das x-hundertfache jener, denen derzeit als sogenannte Systemerhalter applaudiert wird? Warum werden trotz einschlägiger Befunde und Warnungen der Klima- und Ökosystemforschung nicht jene durchaus bekannten Maßnahmen getroffen, die der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen Einhalt gebieten
Warum sind wir derart abhängig von permanentem Wachstum unserer Wirtschaften und dem Ansteigen der öffentlichen Schulden? Der Soziologe Ralph Dahrendorf sprach früh von einem „Pumpkapitalismus“. Und noch größer gedacht: Warum verhungern täglich zigtausende Menschen, obwohl es genügend Nahrung auf der Welt gibt? Ein Bruchteil der Weltmilitärausgaben würde reichen, um den Hunger in der Welt auszurotten.
Durch das Coronavirus machen wir eine Ohnmachtserfahrung, die für viele Menschen in armen Weltregionen seit jeher Alltag ist. Kinder, die an im Grunde heilbaren Krankheiten sterben, weil Medikamente fehlen. Menschen, die verhungern, weil ihnen das Minimum an der täglichen Kalorienzufuhr verwehrt ist. Menschen, die Krieg, Terror und Vertreibung ausgesetzt sind, und international viel zu wenig Hilfe erhalten. Dazu kommt, dass auch das Coronavirus – wie andere Viren davor – die ärmeren, also verletzlichsten Länder am Heftigsten treffen wird. Dies steht erst bevor.
Kein Rückkehr zum Business as Usual
Wir können nach der Krise zurückkehren zum Business as Usual. Wir können die Krise aber auch nutzen für einen Werte-, Paradigmen- und Strukturwandel. Vorschläge dazu gibt es zuhauf. Um die Klimawende zu stemmen und zugleich die Konjunktur zu beleben, wird ein Europäischer Transformationsfonds vorgeschlagen (Stephan Schulmeister) , finanziert über die Europäische Zentralbank. Wenn der Flugverkehr sowie der motorisierte Individualverkehr aus ökologischen Gründen zurückgefahren werden müssen, wäre es kontraproduktiv, die Flug- und Autobranche zur Gänze zu „retten“. Sinnvoller sind der Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel sowie der in der aktuellen Krise stark ausgeweiteten virtuellen Kommunikationswege.
Die Debatte darüber, ob börsennotierte Unternehmen, die nun staatliche Hilfsmaßnahmen erhalten, Dividenden ausschütten dürfen sollen oder nicht, führt zur Frage, warum Kapitalerträge generell derart hoch sein müssen. Etwas weniger wäre auch ausreichend. Fragen nach Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit, also, welche Einkommens- und Vermögensunterschiede ethisch und demokratiepolitisch vertretbar sind, werden im Gefolge der Wirtschaftskrise dringender denn je. Ebenso Fragen nach der Qualität und Sicherstellung öffentlicher Leistungen wie dem Gesundheitssystem, das sich in der Krise in Österreich bisher gut bewährt hat, oder der Betreuung älterer Menschen, bei der Engpässe sichtbar wurden.
Selbst die Forderung nach einem Grundeinkommen erhält angesichts der Krise neuen Zuspruch. Einer der prominentesten Vertreter ist der US-Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller. Drei Viertel der Deutschen sprechen sich für ein befristetes Kriseneinkommen für alle aus, so eine aktuelle Umfrage von „Die Zeit“. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft wird neu justiert werden. Hohe Staatsquoten sind nicht per se schlecht, wie erfolgreiche skandinavische Länder zeigen. Es hängt davon ab, wofür der Staat das Geld ausgibt und auch von wo er es einnimmt.
Vielleicht sollten wir noch größer denken?
Vielleicht sollten wir noch größer denken? Viele Menschen fragen sich jetzt, was wirklich wichtig ist im Leben. Wie würde eine Wirtschaft aussehen, die sich wieder stärker auf die Grundbedürfnisse konzentriert? Lebensmittel hoher Qualität, leistbares Wohnen für alle, gute Schulen und Universitäten, attraktive Städte mit mehr Grün, bedeutend weniger Autos und damit auch besserer Luft, Arbeitszeiten, die gut mit Familie und Sozialleben vereinbar sind. „Die Welt neu denken“, fordert die Umweltökonomin Maja Göpel angesichts der ökologischen Krisen, die nur mit neuen Bildern vom guten Leben für alle erreicht werden können. Das heißt auch, „Wohlstand neu denken“ und diesen auch neu messen, wie alternative Indikatorensysteme für Lebensqualität nahelegen. Etwa der „Better Life Index“ der OECD, die „Donut-Ökonomie“ der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth, die Maßzahlen für Lebensqualität kombiniert mit den „Planetary Boundaries“, oder die Matrix der Gemeinwohlökonomie.
Vielleicht sollten wir eine Wirtschaft denken, in der Wissen und Knowhow global geteilt werden, die Produktion aber wieder stärker regional verortet ist – unter Nutzung von High Tech, langlebigen Gütern und dem Halten der Rohstoffe im Wirtschaftskreislauf. Das würde der Marktwirtschaft mit vielen bunten Unternehmen Auftrieb und wieder die „Marktplätze“ zurückgeben. Der Kapitalismus würde nicht mehr gebraucht oder sein Gesicht stark verändern.
Der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek meint, dass wir eine „Ökonomie für die Satten“ betreiben, jedoch eine „Ökonomie für die Hungernden“ bräuchten. Produziert wird für jene, die über genügend Kaufkraft verfügen, nicht für jene, die Bedarf haben. Wie eine solche Wirtschaft der Basisbedürfnisse umgesetzt werden könnte, wäre eine lohnende Aufgabe für die Wirtschaftswissenschaften und durchaus einen Nobelpreis wert.
Mag. Hans Holzinger ist Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Zuletzt erschien sein Buch „Von nichts zu viel – für alle genug“.