Die Gefahr ist groß, dass nach dem Lockdown durch die Coronakrise die Wirtschaft einfach wieder hochgefahren, sozusagen der „Reset“-Knopf gedrückt wird, und jene Unternehmen die größten Wirtschaftshilfen erhalten, die die besseren Anwälte oder Beziehungen haben. Umso wichtiger ist, dass gerade jetzt Alternativansätze in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden. Einer davon ist die Postwachstumsökonomie.

Wie breit diese Bewegung mittlerweile ist, zeigen in exzellenter Weise Matthias Schmelzer und Andrea Vetter in ihrem Einführungsband „Degrowth/Postwachstum“. Die beiden sprechen von einem „dynamischen Feld“ (S. 13), in dem sich die transdisziplinäre Debatte um Wachstumskritik und Degrowth bewege, eine Debatte, die auch nicht vom Feld der Politik zu trennen sei. Im ersten Teil des Buches werden insgesamt acht Stränge der Wachstumskritik nachgezeichnet: eine ökologische, sozial-ökonomische, kulturelle, antikapitalistische, feministische Kritik sowie die auf frühere Debatten zurückgehende Industrialismuskritik und die Süd-Nord-Kritik. Ein achter Strang benennt staatliche Initiativen wie eine deutsche Enquete-Kommission zum Thema Wohlstand und Wachstum oder die Fitoussi-Stiglitz-Kommission in Frankreich, eine konservative Wachstumskritik etwa des CDU-Vordenkers Meinhard Miegel sowie Wachstumskritik im rechten Lager, etwa des AfD-Politikers Björn Höcke, die Schmelzer und Vetter nicht der „Postwachstumsbewegung“ zurechnen (dass diese drei Ansätze in einen Topf bzw. ein Kapitel geworfen werden, mag hier etwas kritisch angemerkt sein).

Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze und deren Akzentuierungen machen Schmelzer und Vetter einige Gemeinsamkeiten aus: beschrieben werden in der Postwachstumsbewegung Schritte für eine gesellschaftliche Transformation, nicht ein „idealer Endzustand“ (S. 147); wichtig sei zudem die Zurückdrängung des Ökonomischen als allein gültige „Sphäre verselbständigter Rationalität“ (ebd.). Als eine mögliche Definition wird jene des Forschungsnetzwerks „Research & Degrowth“ vorgeschlagen. Postwachstum beschreibe demnach „eine gerechte Reduktion von Produktion und Konsum, die sowohl menschliches Wohlergehen als auch ökologische Nachhaltigkeit umfasst“ (S. 148).

Fünf Ansätze und Strömungen für Postwachstum

Insgesamt unterscheiden Schmelzer und Vetter fünf Strömungen: Der institutionenorientierte Ansatz (1) sucht nach Wegen, die öffentliche Daseinsvorsorge, staatliche Leistungen sowie den Arbeitsmarkt wachstumsunabhängig zu machen. Umverteilung spielt hier ebenso eine Rolle wie Arbeitszeitverkürzung oder Gesundheitsprävention. Der Band „Postwachstumsgesellschaft“ von Irmi Seidl und Angelika Zahrndt gilt als Standardwerk dieses Ansatzes im deutschen Sprachraum. Die suffizienzorientierte Strömung (2) sei, so die Autor*innen, stark in Frankreich und Italien verbreitet; in Deutschland gilt Niko Paech mit seiner Streitschrift „Befreiung vom Überfluss“ als wesentlicher Proponent. Die commonsorientierte bzw. alternativökonomische Strömung (3) wird mit nichtkapitalistischen Formen des „gemeinsamen Produzierens und Auskommens“ (S. 155) umschrieben. Dabei gehe es um „Nowtopias“, um die „Verwirklichung utopischer Praxis im Hier und Jetzt“ (ebd.). Friederike Habermann hat hier für den Begriff „Ecommony“ geprägt.

Als bislang zu wenig beachtet sehen Schmelzer und Vetter die feministische Strömung (4), der es um die Aufwertung von Sorgearbeit („Care-Revolution) und die Aufhebung der Dichotomie von produktiver und reproduktiver Arbeit gehe. Als Vertreterinnen dieses Ansatzes gelten etwa Frigga Haugg („Vier-in-einem-Perspektive“) oder Adelheid Biesecker. Die kapitalismus- und globalisierungskritische Strömung (5) zeichne sich schließlich, so Schmelzer und Vetter, „durch eine stark ausgeprägte Analyse der Wachstumszwänge kapitalistischer Gesellschaften“ sowie der damit zusammenhängenden „Machtdynamiken“ (S. 157) aus. Im Vordergrund dieses Ansatzes stünden „Verteilungs- und Eigentumsverhältnisse, Wirtschaftsdemokratie und Arbeitszeitverkürzung sowie der Um- und Rückbau bestimmter Industriesektoren“ (S. 158). Das Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena oder das Konzeptwerk Neue Ökonomie gelten als Proponenten dieses Ansatzes, die „imperiale Lebensweise“ (Brand/Wissen“) oder die „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich) als theoretischer Bezugsrahmen.

Gemeinsame Ziel der Postwachstumsbewegung

Als Ziele der Postwachstumsbewegung beschreiben Schmelzer und Vetter im letzten Teil des Buches globale ökologische Gerechtigkeit (1), soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und ein gutes Leben (2) sowie Wachstumsunabhängigkeit (3). Wie bereits deutlich wurde, nehmen die verschiedenen Ansätze unterschiedliche Akzentuierungen vor. Um 1) und 2) zu erreichen, gilt der Wachstumsabhängigkeit (3) politisch wohl die größte Aufmerksamkeit. Diese wird bezogen auf materielle Infrastrukturen (für Verkehr, Energieversorgung, Distribution und Entsorgung) und technische Systeme (Atomkraft, digitale Kommunikationssystem usw.), auf gesellschaftliche Institutionen (Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsmärkte, Renten- und Gesundheitsvorsorge usw.), auf „mentale Infrastrukturen“ (Einstellungen, Werte) sowie schließlich auf das Wirtschaftssystem selbst (internationale Konkurrenz, Expansionszwang, Geldsystem und Schulden). Reformen innerhalb des Kapitalismus wie Verkürzung der Arbeitszeiten, radikale Verschlankung des Finanzsektors, Vollgeld oder kürzere Wertschöpfungsketten stehen dabei Perspektiven eines Postkapitalismus gegenüber.

Die zahlreichen Vorschläge der Postwachstumsbewegung werden hinsichtlich Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Erreichbarkeit analysiert. Deutlich wird die Vielfalt der praktischen Umsetzungsschritte: diese reichen von Ressourcen- und Vermögenssteuern über das Streichen von nicht nachhaltigen Wirtschaftssubventionen bis hin zu Infrastrukturmoratorien für Großprojekte sowie die Konversion bzw. Abwicklung ganzer Produktionszweige, indem etwa statt Autos künftig moderne öffentliche Verkehrsmittel produziert werden. Grund- und Maximaleinkommen, Schuldenschnitte, Förderungen für gemeinwohlorientierte Wirtschaftsformen, soziale Enteignung leerstehenden Wohnraums, Reduktion von Werbung, Obergrenzen für Naturnutzung sowie die Abschaffung des BIP als Wohlstandsindikator gelten als weitere Forderungen (S. 179).

Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Ansätze

Die Stärke des Bandes liegt nicht nur in der Sortierung der unterschiedlichen Postwachstumsansätze, sondern, dass er auch deren jeweilige Stärken und Schwächen analysiert. So ist der Institutionenansatz, wie Schmelzer und Vetter selbst betonen, der anschlussfähigste an bisherige Politikkonzepte, übersieht jedoch möglicherweise die Wucht der kapitalistischen Akkumulationsmaschine. Der alternativökonomische Ansatz eröffnet konkrete alternative Praktiken, verharrt aber in Nischen und übersieht die Notwendigkeit der Veränderung von Strukturen. Das ist ähnlich beim Suffizienzansatz, ohne den wir wohl nicht in die ökologischen Grenzen zurückkehren können, der seine Breitenwirkung bzw. Mehrheitsfähigkeit möglicherweise aber überschätzt. 

Der feministische Ansatz befruchtet andere Denkschulen, greift aber notgedrungen nur einen Aspekt von Postwachstum auf. Der kapitalkritische Ansatz schließlich erkennt, das ökonomische Strukturen verändert werden müssen. Außer in der Variante der gänzlichen Vergemeinschaftung der Produktionsmittel, setzt er letztlich aber auch auf Reformen, wie die Vorschläge des Bandes zeigen. Die Abgrenzung von neonationalistischen bzw. bioökonomischen Ansätzen ist wichtig, ein Fehler meines Erachtens aber ist – so meine einzige Kritik an dem Buch – die Ausgrenzung staatlicher bzw. konservativer Ansätze, da diese für die Findung von Mehrheiten durchaus Relevanz haben werden.

Schmelzer, Matthias; Vetter, Andrea: Degrowth/Postwachstum zu Einführung. Hamburg: Junius-Verl., 2019. 256 S.

„Wir denken, dass es für ein gründliches Verständnis von Degrowth oder Postwachstum unabdingbar ist, die verschiedenen Traditionsstränge und Strömungen im Blick zu behalten, um zu einer eigenen Position im Diskurs zu finden.“ (S. 15)

„Wirtschaftliche Schrumpfung ist nicht das Ziel von Postwachstum, und ebenso wenig ist Postwachstum das Gegenteil von Wachstum. Die Reduktion von Produktion und Konsum ist vielmehr eine notwendige Konsequenz der Tatsache, dass es unmöglich ist, Wirtschaftswachstum von Materialdurchsatz ausreichend zu entkoppeln.“ (S. 24)