Der Stadtanthropologe und Historiker Felix Ackermann war am 29. Mai 2017 zu Gast in der 97. Montagsrunde, die diesmal in Kooperation mit dem Verein prolit durchgeführt wurde.

Ackermann las aus seinem Buch „Mein litauischer Führerschein“, in dem er das Leben und politische Geschehen in Litauen reflektiert. „Felix Ackermanns Buch ist eines, das – geografisch wie historisch – weit führt und das schon im Titel  die beiden Perspektiven zusammenführt, von denen es getragen und bestimmt ist: Mein litauischer Führerschein. Ausflüge zum Ende der Europäischen Union – das vermittelt, dass in diesem Buch sich eine persönliche, private und eine wissenschaftlich-politische Ebene verschränken“, so Petra Nagenkögel von prolit in der Einführung.

Der Buchtitel bezieht sich auf den Versuch des Autors, im EU-Mitgliedsland Litauen als Deutscher den Führerschein zu  machen, was mit allerlei Komplikationen verbunden war. Dass die Europäische Union durchaus noch Potenziale hat näher zusammen zu wachsen, machte Ackermann auch an folgendem Beispiel deutlich. In der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gab es einen Zug, der von Paris bis Vilnius fuhr und die Strecke von Warschau bis in die litauische Hauptstadt in fünf Stunden schaffte. Heute sei man mehr als zehn Stunden unterwegs – übrigens auch, um mit dem Zug von Wien nach Warschau zu gelangen.

Im Hauptteil seiner Lesung und dem folgenden Gesprächs beschrieb Ackermann das Leben in einem Land, das in der Geschichte mehrmals von unterschiedlichen Mächten besetzt war – Litauen war unter polnischer, russischer, deutscher und bis 1991 unter sowjetischer Herrschaft – und sich auf der Suche nach der eigenen Identität befindet. Während als Amtssprache nur mehr Litauisch zugelassen ist, wird im Alltag nach wie vor auch russisch und polnisch gesprochen, so ein Beispiel des Autors für die Ambivalenzen, in denen sich das Land befindet. Die Annexion der Krim durch Russland und der Ukraine-Konflikt hätten auch in den baltischen Staaten erneut die Ängste vor eine Besetzung geschürt, schilderte Ackermann die Verunsicherung in einem Land, das nun seit einem Vierteljahrhundert die Unabhängigkeit hat und seit 2004 Mitglied der Europäischen Union ist.

Unter den Gästen war auch der Vizepräsident der Robert-Jungk-Stiftung Dr. Peter Krön, der als langjähriger Honorarkonsul Salzburgs für Litauen und als Koordinator der seit 1970 bestehenden Partnerschaft zwischen dem Land Salzburg und Litauen Einblicke in die bewegte Geschichte des Landes gab.

Die Einführung zum Buch und Autor gab Mag. Petra Nagenkögel, Leiterin des Vereins Prolit (im Bild rechts neben Stefan Wally von der JBZ und Felix Ackermann).

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Petra Nagenkögel zum Buch „Mein litauischer Führerschein“

Felix Ackermanns Buch ist eines, das – geografisch wie historisch – weit führt und das schon im Titel / Untertitel die beiden Perspektiven zusammenführt, von denen es getragen und bestimmt ist: Mein litauischer Führerschein. Ausflüge zum Ende der Europäischen Union – das vermittelt, dass in diesem Buch sich eine persönliche, private und eine wissenschaftlich-politische Ebene verschränken.

Roter Faden ist die Geschichte der belarussischen Europäischen Humanistischen Universität, die wegen der staatlichen Repression in Belarus ihren Standort nach Vilnius / Wilna verlegen musste – auch Universitäten müssen manchmal ins Exil gehen – Felix Ackermann wird dort Dozent und lässt in der Geschichte dieser Universität postsowjetische Realitäten, die autokratische Regierung in Belarus, Bürokratismen und Grotesken erkennbar werden, aber auch die Möglichkeiten und das Funktionieren der Europäischen Union, ebenso die Widerstandsstrategien und Kreativität derer, die diese Universität als ein vielsprachiges Zentrum des Wissens aufbauen und bewahren wollen. Ackermann wird mit seiner Familie für einige Jahre in Wilna bleiben, litauisch lernen, seinen Führerschein machen – und das in mehreren Anläufen, in mehreren Sprachen und an mehreren Orten des Landes.

Das angesprochene Mit- und Ineinander von persönlicher und wissenschaftlicher Perspektive wird inhaltlich wie formal realisiert – kurze Abschnitte, die wechselnde Themen pointiert nebeneinanderstellen, die gegenwärtiges Erleben mit historischen Exkursen zusammenführen und subjektive Erfahrungen mit fundiertem Wissen und breiter Recherche grundieren. Damit vermittelt sich (auch formal, im Aufbau des Buchs), dass das einzelne, private Leben nie zu denken ist ohne den gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem es steht. Es vermittelt sich aber genauso, dass jede Gegenwart sich von einer Vergangenheit herschreibt, dass Geschichte nicht als abgeschlossene zu begreifen ist, sondern als wirkmächtig in jede Gegenwart hinein. Ein systemischer Blick ist es, der dieses Buch bestimmt und ein Bewusstsein um das Prozessuale von Geschichte.

Felix Ackermann ist Historiker und Stadtanthropologe und das meint mit einer Praxis der Wahrnehmung durch die Welt zu gehen, die im Sichtbaren das historisch Gewordene, das Untergründige, das Verborgene mitsieht und mitdenkt – In Litauen sind das nicht nur die Traditionen von Mehrsprachigkeit und Multikonfessionalität, die, wie es im Buch heißt, immer noch spürbare „innere Mehrsprachigkeit“ des Landes, sondern auch die politischen Grenzziehungen und Gebietsverschiebungen des letzten Jahrhunderts, die palimpsestartig noch vorhanden sind, in Stadtbildern ebenso wie in den Biografien und Erinnerungen Einzelner -Nicht zuletzt sind das die das Land durchziehenden Spuren von Nationalsozialismus und Stalinismus. „Das ganze Land ist ein Gräberfeld“ heißt es an einer Stelle. Die Anwesenheit des Abwesenden sichtbar zu machen, das ist eine der Leistungen dieses Buchs.

Die kulturelle und politische Vergangenheit schreibt in der Sichtweise von Felix Ackermann immer mit auch an den gegenwärtigen Perspektiven eines Landes am geografisch äußersten Ende der Europäischen Union – eingebettet in den ostmitteleuropäischen Kontext und mental geprägt vom sowjetischen Erbe, das man hinter sich lassen möchte. Was ebenso mitschreibt und was von Ackermann anhand der litauischen Gegenwart reflektiert wird, sind die Krisensymptome, aber auch die Leistungen der Europäischen Union., nicht zuletzt die Diskrepanz zwischen politischen Formeln und Diskursen und den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Realitäten.

Damit ist dieses Buch ein vielschichtiger Resonanzraum, in dem Geschichte und Gegenwart in ihren unauflösbaren Bezügen präsent sind – und das schließlich deutlich werden lässt, dass auch Zukunft nur zu haben ist, wenn es kollektiv haltbare und belastbare Verbindungen in die eigene Vergangenheit gibt.