Judith Brandner hat als ORF-Journalistin in mehreren Features die Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki thematisiert. Robert Jungks Engagement spielte darin eine wesentliche Rolle. Nun berichtet sie über einen „sensationellen Fund“. Keiko Ogura, die Frau jenes Mannes, der Robert Jungk in der Arbeit zu seinem Buch „Strahlen aus der Asche“ wesentlich unterstützt hatte, entdeckte beim Aufräumen ihrer Wohnung „500 Seiten Briefe“, die ihr verstorbener Mann Kaouro Ogura in den 1950er-Jahren an Robert Jungk geschrieben hatte. Wir danken Judith Brandner herzlich für den folgenden Bericht.

Neue Dokumente über Leben und Überleben nach der Bombe.

Ende 2016 räumt Keiko Ogura ihre Wohnung in Hiroshima gründlich auf. Sie ist fast 80, ihre Tochter will bei ihr einziehen, um sich besser um sie kümmern zu können. Da fällt der alten Dame eine Schachtel in die Hand, in der sie ein Stückchen der Nabelschnur ihrer Tochter aufbewahrt hat. Die Schachtel entpuppt sich als sensationeller Fund: Denn unter der Nabelschnur liegen auf dünnem Durchschlagpapier fast 500 Seiten der Briefe, die ihr verstorbener Mann Kaoru in den 1950er Jahren an den österreichischen Journalisten und Autor Robert Jungk geschrieben hatte. Kaoru Ogura, der spätere Leiter der Friedensgedenkstätte von Hiroshima, war Roberts Jungks wichtigster Informant. Seine Berichte, Interviews und Informationen aus Hiroshima dienten Jungk als Basis für sein großartiges Hiroshima-Buch „Strahlen aus der Asche“. Das erschütternde und später in viele Sprachen (darunter auch ins Japanische) übersetzte Werk erschien 1958 und war das erste deutschsprachige Buch über das Leben der Menschen im bombardierten Hiroshima.

Kaoura Ogura hat Robert Jungk wesentlich in den Recherchen zu „Strahlen aus der Asche“ unterstützt (Foto: Jungk-Foto-Archiv/JBZ)

Jungk war einer der ersten Journalisten, die damals über die Auswirkungen der ersten Atombombe in der Menschheitsgeschichte recherchierten und schrieben. Als erstem war es 1946 dem amerikanischen Kriegsreporter John Hersey gelungen, eine Reportage über Hiroshima vorzulegen. Hersey recherchierte im Auftrag des Magazins „The New Yorker“. Wie so viele, die versuchten, sich in Japan ein Bild der Lage zu machen, und über die Folgen des Atombombenabwurfs auf die Menschen zu schreiben, war auch er mit erheblichem Widerstand der US-Besatzungsbehörden konfrontiert. Die amerikanische Zensur war der Grund, weshalb unmittelbar nach dem Abwurf Schweigen herrschte: Bis 1952 war jegliche Berichterstattung über die Atombomben, ja selbst deren Erwähnung, verboten. Jungk war von Herseys Bericht sehr erschüttert, und er war für ihn wohl der Auslöser, Hiroshima zu besuchen. Möglich war dies für ihn erstmals 1955. 1956/57 kehrte er wieder, und recherchierte mit Hilfe von Kaoru Ogura für seinen Roman. Nach seiner Rückkehr nach Österreich beantwortete Ogura zwei Jahre lang seine Fragen in 213 fein säuberlich durchnummerierten Briefen, auf insgesamt 836 Seiten. Die Briefe enthielten außerdem Interviews, Zeitungsartikel und andere Rechercheergebnisse.

Kaoru Ogura, damals ein junger Privatgelehrter, sei sein idealer Mitarbeiter gewesen, schreibt Robert Jungk im Nachwort zu „Strahlen aus der Asche“. Der 1920 in den USA geborene Ogura sprach perfekt Englisch. 1930 zog er mit seinen Eltern nach Hiroshima, nach dem Krieg war er als Dolmetscher und Übersetzer tätig, u.a. für ausländische Journalisten. Ursprünglich habe er angenommen, die Zusammenarbeit werde höchstens zwei, drei Monate dauern, schreibt Jungk, dann wurden daraus mehr als zwei Jahre und eine Freundschaft. Er habe nur einen Bruchteil der Informationen und Unterlagen verwenden können, schreibt Jungk, denn die Fülle der Informationen habe mittlerweile den Umfang von acht normalen Büchern erreicht. Und er spricht die Hoffnung aus, dass sich später einmal ein Forschungsinstitut des Materials annehmen werde.

Buch über den Briefwechsel Kaoru Ogura und Robert Jungk in Japan erschienen

Rund 60 Jahre später scheint sich diese Hoffnung zu erfüllen. Durch das Nachwort Jungks zu „Strahlen aus der Asche“ wusste Yuji Wakao, dass es noch weiteres Material geben müsse, das von großem Wert für die Hiroshima-Forschung sein könnte. Yuji Wakao ist emeritierter Professor für moderne Geschichte der Universität Nagoya. Er befasst sich seit einigen Jahren intensiv mit den Recherchen Robert Jungks zu Hiroshima, und hat mehrere Robert Jungk-Ausstellungen in Japan organisiert. Schon seit langem vermutete er, dass sich die Briefe bei Oguras Witwe Keiko befinden müssten. Denn bei ihr waren erstmals im Jahr 2010 300 Seiten aufgetaucht. Der neue Fund erweitert nun die Erkenntnisse über Leben und Überleben im post-atomaren Hiroshima.

Robert Jungk mit der Familie Ogura bei einem seiner zahlreichen Japanaufenthalte. Hier 1959. (Foto: Jungk-Foto-Archiv/JBZ)

Mittlerweile hat Yuji Wakao die Briefe ins Japanische übersetzen lassen und ein umfangreiches Buch über den Briefwechsel zwischen Kaoru Ogura und Robert Jungk geschrieben. Es wird im Frühjahr 2018 in Japan erscheinen. Besonders wertvoll erachtet Wakao die Interviews mit Überlebenden, die Ogura geführt hat. Einer von ihnen ist der Geologe Shogo Nagaoka, der spätere erste Leiter des Peace Memorial Museum, der Atombombengedenkstätte. Nagaoka, damals Lektor an der Universität Hiroshima, ging bereits am Tag nach dem Abwurf der Bombe durch das zerstörte Hiroshima, um zu verstehen, was passiert war. (1959 erschien sein Buch „Hiroshima Under Atomic Bomb Attac“). Von seinen Kollegen wurde der Geologe, der durch die Ruinen der Stadt ging und Schutt und Eisenteile aufklaubte, um sie zu analysieren, scheel angesehen. Sie hätten ihn als Idioten bezeichnet und sich lustig über ihn gemacht, erzählt Yuji Wakao, aber tatsächlich habe Nagaoka bedeutend zum heutigen Wissen über die Geschehnisse damals und über die Auswirkungen der Bombe zu beigetragen.

Davon war auch Jungk überzeugt – der Geologe ist einer seiner Protagonisten in „Strahlen aus der Asche“: Ein anderer Erforscher dieser Wildnis war ein schlanker, schnurrbärtiger und bebrillter Mann, der einen ganz und gar nicht zu seiner Militärkappe und den martialischen Wickelgamaschen passenden weißen Labormantel trug. Auch er sammelte eifrig und kehrte am Ende des Tages mit vollem Rucksack und prallem Brotbeutel zu seiner Familie zurück. Wenn er dann aber die Beute auf dem ‚tatami‘ seines Hauses ausleerte, befand sich darunter kaum etwas, das man hätte verkaufen können. Es waren einfach Steine aller Arten und Größen.

Nicht nur für sein Buch wollte Jungk ein Interview mit dem Geologen, sondern auch, um den Wissenschaftlern des Manhattan Projects schriftliche Aufzeichnungen über die Auswirkungen der Bombe übergeben zu können. Die wichtigsten Artefakte, die in der Friedensgedenkstätte zu sehen sind, stammen aus der Sammlung von Shogo Nagaoka: geschmolzene Flaschen, auf Steinen eingebrannte Schatten, verkohlte Bambusstäbe, durch die enorme Hitze veränderte Ziegel und vieles mehr; insgesamt rund 10.000 Samples. Nagaokas geologischen Beobachtungen und Forschungen ist es auch zu verdanken, dass das Epizentrum der Atombombenexplosion genau bekannt ist. „Ohne Nagaokas Sammlung gäbe es das Atombomben Museum in dieser Form nicht!“, so Yuji Wakao.

Robert Jungk hatte Pläne über Atombombenausstellungen der Friedensbewegung in Europa

Von der Atombombe ausgelöschter Stadtteil in Hiroshima (Foto: Chugoko Shimbun/Jungk-Foto-Archiv/JBZ)

Aus den nun aufgefundenen Briefen geht hervor, dass Jungk mehrfach versuchte, die Steine und anderen Artefakte in Europa auszustellen. Es habe immer wieder Pläne über Atombomben-Ausstellungen der Friedensbewegung in Europa gegeben. Jungk und Ogura tauschten sich brieflich darüber aus, was am besten gezeigt werden sollte, Ogura besprach sich auch mit Nagaoka. Alle drei seien sich einig gewesen, dass diese Dinge großen Wert für die Erinnerung und die historische Übermittlung hätten, so Wakao. Dies ist auch deshalb beachtenswert, weil die Bevölkerung von Hiroshima die Sinnhaftigkeit dessen nicht erkannte: Viele seien der Meinung gewesen, es wäre besser, keine Artefakte auszustellen, die doch nur schmerzliche Erinnerungen an jenen Tag weckten.

Auch die Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer Hiroshimas, mit ihrer charakteristischen Kuppel, wollten die Bewohner_innen nicht länger vor Augen haben und verlangten deren Abriss. Robert Jungk kämpfte für den Erhalt des heutigen Wahrzeichens der Stadt Hiroshima. Am 5. August 1959 veröffentlichte die Zeitung Chugoku Shimbun einen Kommentar Jungks, in dem sich dieser für die Bewahrung der Ruine als Mahnmal für den Frieden einsetzt. Damit initiierte er eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gebäude, einem Stahlbetonbau des tschechischen Architekten Jan Letzel von 1915. Die Bevölkerung war gespalten, wie auch aus den Briefen Oguras hervorgeht: „Viele waren damals der Meinung, dass es besser wäre, ein ‚schönes‘ Symbol zu haben, das nicht so augenfällig an die Zerstörung erinnert“, erzählt Yuji Wakao: „Auf der anderen Seite gab es diejenigen, die es notwendig fanden, das Gebäude stehenzulassen, um den Schaden zu zeigen; als ein Symbol, an dem sich die grauenvollen Auswirkungen der Atombombe festmachen ließen. Für nachkommende Generationen, oder auch für Besucher von außerhalb Hiroshimas oder Japans.“  1996 erklärte die UNESCO den Bau zum Weltkulturerbe.

Die Aufarbeitung der Briefe war sowohl für Herausgeber Yuji Wakao, als auch für das Übersetzer_innen Team eine riesige Herausforderung. Abgesehen vom riesigen Umfang des Materials, von Tipp- und Grammatikfehlern, fehlenden Buchstaben oder völlig unleserlichen Passagen auf dem 60 Jahre alten Durchschlagpapier, waren es vor allem die Eigennamen, die den Übersetzer_innen Kopfzerbrechen bedeuteten. Japanische Namen werden mit Kanji, chinesischen Schriftzeichen, geschrieben und oft anders als üblich ausgesprochen. Kaoru Ogura hatte die japanischen Namen für Jungk ins westliche Alphabet transkribiert. Für die Rücktranskription musste jeder einzelne Name verifiziert werden. Unter den in den Briefen Erwähnten waren zum Beispiel Beamte der Stadtregierung von Hiroshima oder Bibliotheksangestellte der Universität.

Um zu recherchieren, wie sich etwa ein Beamter der damaligen Stadtverwaltung richtig schrieb, bräuchte man die Namensverzeichnisse, solche existieren in Hiroshima jedoch erst ab Oktober 1959. So blieb die korrekte Schreibweise einiger Namen ungeklärt. Eine weitere Schwierigkeit sei es gewesen, die verschiedenen Quellen im Text auszumachen und zu trennen, erzählt Yuji Wakao: „Welche Aussage sollte wem zugeordnet werden? Was sind Materialien Dritter, wie zum Beispiel die Tagebücher des Überlebenden und Helfers Ichiro Kawamoto, einem der wichtigsten Protagonisten in „Strahlen aus der Asche“; oder was ist Oguras persönlicher Meinungskommentar?“ Ogura kannte die Tagebücher Kawamotos, er hatte ihn interviewt, und verwendete diese Quelle, wenn er Fragen von Jungk beantwortete. Ogura übersetzte für Jungk auch Artikel aus japanischen Zeitungen; aus Gründen des Copyrights konnten diese nicht rück-übersetzt und in Wakaos Buch aufgenommen werden: „Wir haben stattdessen Verweise gemacht, so dass Interessierte die Originale einsehen können.“ Und natürlich waren die Briefe in erster Linie als Unterlage für Jungk gedacht und nicht 1:1 für eine Veröffentlichung. So rätselten die Übersetzer_innen über so manche umgangssprachliche Wendung. Fingerspitzengefühl verlangte der Umgang mit allen Menschen, die in den Briefen erwähnt sind. Viele Überlebende oder deren Angehörige wollen ihre Namen nicht als hibakusha, als Atombombenüberlebende, in einem Buch lesen.

Sein Besuch in Hiroshima, seine Interviews und Begegnungen mit Atombombenopfern und sein Briefwechsel mit Kaoru Ogura waren prägend für Robert Jungk und machten ihn zu dem vehementen Atomkraft-Gegner – von Atomwaffen wie Atomkraftwerken – gleichermaßen, der er Zeit seines Lebens bleiben sollte.