Was ist Solidarität? Wen schließt sie sein? Wen nicht? Was unterscheidet die Solidarität der Ähnlichen von jener der Unterschiedlichen? Wie wird der Sozialstaat als institutionalisierte Form der Solidarität wahrgenommen? Und wie steht es um die Solidarität innerhalb der Europäischen Union? Fragen wie diese waren Thema bei der Vorstellung des aktuellen Heftes der Sozialwissenschaftlichen Rundschau 4/2919 in der 55. Ausgabe von JBZ-Zukunftsbuch. Die lesenswerte Zeitschrift kann hier bestellt, das besprochene Heft auch in der JBZ bezogen werden.
Chefredakteur Christian Schaller gab zunächst einen Einblick in die theoretischen Beiträge des Heftes – das Plädoyer für eine „Pluralität der Solidaritäten“ in pluralen Gesellschaften, die Bedeutung von Solidarität in der Gabentheorie als solidarische Ökonomie im Verhältnis zu Kapitalismus und Marktwirtschaft sowie die Herleitung des Solidaritätsbegriffs bei Comte und Durkheim und des französischen Solidarismus, die hier nicht auf individuell-liberalen Freiheiten und Rechten der Philosophie der Aufklärung , sondern auf dem an sozialer Gerechtigkeit, sozialer Ökonomie und Politik orientierten republikanitschen Rechts- und Wohlfahrtsstaat basiert basiert.
In der Folge stellte er zwei aktuelle soziologische Studien aus Österreich zur Einstellung zum Sozialstaat sowie zum Thema Solidarität vor. Das Besondere der Untersuchungen: die erhobenen Einstellungen wurden nicht nur mit sozioökonomischen Eckdaten der Befragten, sondern mit weiteren Parametern , etwa Gesellschaftsbildern, der Selbstpositionierung in der Gesellschaft oder der politischen Orientierung, verknüpft.
Die Einstellung zum Sozialstaat ist etwa – so eines der Ergebnisse der ersten referierten Studie – signifikant negativer im Verhältnis zum Durchschnitt bei Personen, die ein idealisiertes Leistungsprinzip oder den Hang zu Autoritarismus bzw. Rassismus aufweisen. Auch die Selbstpositionierung in der Gesellschaft spielt eine Rolle. Generell ist die Zustimmung zur Unterstützung „kinderreicher Familien“ am höchsten, sie sinkt bei jener für „Langzeitarbeitslose“ und ist bei jener für „Flüchtlinge“ am niedrigsten (mehr siehe Grafiken unten).
Höheres kulturelles Kapital und höhere gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Tätigkeit erhöhen Solidarität
In der zweiten referierten Studie geht es um den Einfluss von „Ungleichheit“ auf die Einstellungen österreichischer ArbeitnehmerInnen bezogen auf Zustimmung zum Sozialstaat, im Hinblick auf gemeinsame Interessen und im Hinblick auf die Interesse anderer . Abgefragt wurden die Bereiche „Chancen-, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit“ und die Antworten nach fünf Gesellschaftsgruppen unterteilt: der „oberen ArbeitnehmerInnen-Mitte“, der „urbanen Mitte“, der „ländlichen Mitte“, der „besitzlosen Arbeiterschicht“ sowie den „urbanen Armutsgefährdeten“. Generell gibt es eine sehr hohe Zustimmung zu mehr Gerechtigkeit, so das zentrale Ergebnis. Die Zustimmung ist bei Chancengerechtigkeit am höchsten, gefolgt von Leistungsgerechtigkeit. Am niedrigsten ist jene zu Bedarfsgerechtigkeit. Die Zustimmung zum Sozialstaat ist insgesamt mit 75 Prozent der Befragten jedoch durchgehend hoch, jene zur Unterstützung der „Interessen anderer“ ist bei den Gruppen mit hohem kulturellem Kapital wie Bildung am höchsten. Geringere Orientierungslosigkeit und größeres Zusammengehörigkeitsgefühl sowie die gesellschaftliche Wertschätzung der eigenen Tätigkeit spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in Bezug auf Solidarität mit anderen, so ein weiteres Ergebnis (mehr siehe Grafiken unten).
„Austerität statt Solidarität in der Europäischen Union“
Im zweiten Teil präsentierte Doris Wydra von der Universität Salzburg ihren Beitrag über „Herausforderungen für ein europäisches Solidaritätskonzept nach der Finanzkrise“. Nicht „Solidarität“, sondern „Austerität“ sei das Politikonzept nach der Finanzkrise gewesen, so die Politikwissenschaftlerin. Gesprochen wurde von einer „Schuldenkrise“ und nicht etwa von einer „Wachstumskrise“, „Rettungsmaßnahmen“ gab es nur verbunden mit Auflagen an die „fahrlässigen Sünder“.
Wydra führte diese „Krisenbewältigungsstrategie“ auf das Denken des Ordoliberalismus der 1950er-Jahre zurück, auf dem auch die Europäische Union aufgebaut worden sei. Wohlstand entsteht demnach, so etwa Ludwig Erhard oder Walter Euckens, nur durch einen freien Markt, durch Leistung, Sparen und Wachstum. Aufgabe des Staates sei es, auf die Einhaltung der Marktregeln zu achten, nicht umzuverteilen, denn Sozialtransfers würden dem Wachstum schaden.
Eine Solidarunion habe in dieser Lesart nie eine Berechtigung und damit keine Umsetzungschance. Wydra problematisierte diese Sichtweise, weil sie das Primat der Politik verkürze und auf die Umsetzung nicht mehr verhandelbarer Regeln reduziere. Politik bedeute jedoch den Austrag von Konflikten und das Aushandeln von Lösungen. Mehr zu diesem spannenden Beitrag im Heft 4/2019 der Sozialwissenschaftlichen Rundschau.
Der spannende Abend machte auch in der Diskussion über die Referate deutlich, dass Solidarität einen wichtigen Bestandteil emanzipatorischer Politik sowie gesellschaftlicher Kohäsion darstellt. Die Art der öffentlichen Diskurse, der verwendeten Sprachbilder, des Framings und der ideologischen Konstrukte spielen eine wesentliche Rolle in Bezug auf die Umsetzung von Politi-Konzepten. Deutlich wurde auch, dass im Kontext ökologischer Krisen sowie globaler Disparitäten erweiterte Solidaritätskonzepte nötig sind, die alle ErdenbürgerInnen, ja alle Lebenwesen, auch die Tiere, mit einschließen. Und dass wir angesichts von Wachstumsgrenzen neue Wohlstandserzählungen brauchen werden.
Anhang: Grafiken
Moderation, Bericht und Foto: Hans Holzinger, JBZ