Das Buch „Unsere Welt neu denken“ von Maja Göpel könnte vom Titel her durchaus auf die Corona-Krise gemünzt sein, erschienen ist es jedoch bereits davor. „Unsere Welt neu denken“ bezieht sich auf die Ökokrisen, den Klimawandel, den Artenschwund, die Degradation der Böden, Süßwasserspeicher und Meere. Göpels Anliegen ist es, den Ernst der Lage zu vermitteln – das mag die Parallele zur Coronakrise sein, die uns den Ernst der Lage hautnah vorführt, meint Rezensent Hans Holzinger.

„Mit unserer Sprache und ihren Begriffen drücken wir aus, was wir erreichen wollen und worauf wir achten. Ein Konzept oder eine Theorie zu entwickeln heißt deshalb auch, Grenzen des Denkens abzustecken.“ (S. 95) Damit bringt Maja Göpel auf den Punkt, worum es ihr in ihrem Buch geht. Oder kürzer gesagt: „Ändere die Sicht auf die Welt, und es verändert sich die Welt.“ (S. 49) Gewohnte Denkschablonen verlassen, scheinbar unumstößliche Modelle und Weltsichten hinterfragen, neue Perspektiven eröffnen, Themen aus neuen Blickwinkeln betrachten und – insbesondere – genau hinzuschauen und uns dem Ernst der Lage stellen, so könnte man die Aufforderung der Nachhaltigkeitsforscherin zusammenfassen. Das Buch ist vor der Viruspandemie erschienen – es bezieht sich auf die ökologischen Zerstörungen durch unseren Wirtschafts- und Konsumstil, der Titel passt jedoch gut zur aktuellen Krise: Wir müssen die Welt neu denken.

„In unseren Bildern davon, wie wir die Erde sehen, ihre Natur, wie wir Menschen sind oder nicht sind, wozu Fortschritt dient, wofür man Technik einsetzt und was einem gerecht erscheint, liegt die Deutungshoheit darüber, was in der Welt möglich ist und was nicht.“ (S. 186)

In den zehn Kapiteln des Buches lädt Göpel uns ein, Dinge anders zu sehen, den Fokus neu auszurichten, Erkenntnisse der Wissenschaften transdisziplinär zu nutzen. Das beginnt beim Erkennen des Ernstes der Lage („Die Auszehrung der Natur ist zum Dauerzustand geworden.“, S. 28) sowie unserem Blick auf Fortschritt („Das was wir modernen Fortschritt nennen, ist im Prinzip nichts anderes als Ausbreiten und Ausbeuten.“, S. 29), setzt sich fort bei der Absolutierung von Geld und Wachstum unter Ausblendung der ökologischen Schäden bzw. der trügerischen Hoffnung auf mehr Effizienz und grüne Technologien („Wirtschaftswachstum in seiner heutigen Form heißt Klimawandel. Und mehr Wirtschaftswachstum heißt noch mehr Klimawandel.“ (S. 76) und endet schließlich bei grundlegenden Fragen wie Lebensqualität oder Gerechtigkeit („Wenn der Kuchen nicht immer größer werden kann, stellt sich automatisch die Frage, wie er zu verteilen ist.“, S. 161) Der Losung der UN-Nachhaltigkeitsziele „Niemanden zurücklassen“ stellt Göpel im Umkehrschluss entgegen „Niemanden davonziehen lassen“ (S. 175).

Unterscheidung von Preis und Wert, Wert- und Schadschöpfung

Die Autorin, die beim World Future Council und am Wuppertal-Institut beschäftigt war und nun als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen wirkt, ist eine exzellente Kommunikatorin. Sie versteht es, Geschichten zu erzählen, etwa über den CO2-Ausstoß der fünf reichsten Weltbürger oder über die gleichverlaufenden Aktienkurse und die Kurven des Treibhausgasausstoßes; sie erklärt Forschungsergebnisse auf spannende Weise wie das „Easterlin-Paradox“ (besagt, dass Menschen ab einem bestimmten Wohlstandsniveau nicht mehr glücklicher werden) oder die Erkenntnis, dass sich materialistische Werte spiegelverkehrt zu sozialen und umweltorientierten Werten verhalten; und Göpel zitiert ÖkonomInnen, die neue Sichtweisen einbringen. Ein Beispiel ist die Unterscheidung der US-Ökonomin Mariana Mazzucato von Preis und Wert, die in der Mainstream-Ökonomie sowie den BIP-Rechnungen gleichgesetzt werden. Wirtschaftlich erfolgreich sei demnach, was in Geldwerten höher bewertet wird, was etwa in Bezug auf die volatilen Finanzmärkte absurd sei (S. 93f). Göpel verwendet neue Begriffe, wenn sie der „Wertschöpfung“ die „Schadschöpfung“ gegenüberstellt und Verzicht in einem anderen Licht betrachtet:

„Ich kann nur auf etwas verzichten, das mir nach Lage der Dinge zusteht. Der Wohlstand, in dem die westliche Welt lebt und an dem sich viele Entwicklungsländer orientieren, hätte nach den Regeln der Nachhaltigkeit aber gar nicht erst entstehen dürfen.“ (S. 127)

Und die Autorin wendet sich mit verblüffenden Fakten direkt an uns als Leserinnen: „Wussten Sie, dass die Hälfte des Kohlendioxids, für das die Menschheit verantwortlich ist, in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen wurde?“ (S. 35). Oder: „Bis 2007 [Basis einer zitierten Studie] erbot die Natur dem Menschen 125 bis 145 Billionen Dollar pro Jahr an Dienstleistungen. Das ist deutlich mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Welt.“ (S. 50). Es sei daher infam, bei Umweltschäden von externen Kosten zu sprechen, da diese direkt auf unsere Lebensbedingungen rückwirken.

Weiterzumachen wie bisher ist keine Option

Das Buch listet auch Vorschläge auf, was zu tun sei und wie die Umsteuerung gelingen könnte, etwa durch die Neubewertung von wirtschaftlichem Erfolg, Umsteuern durch Ökosteuern, Umverteilungsmaßnahmen zwischen Nord und Süd, die Einrichtung von Ökofonds u.a.m. (Im Anhang werden konkrete Initiativen benannt). Zentrales Anliegen ist es jedoch, wachzurütteln: „Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt. Denn auch wenn wir gar nichts ändern, verändert sich viel – nur nicht zum Guten.“ (S. 184) Jene Ernsthaftigkeit zu vermitteln, muss Aufgabe aller Bildungsanstrengungen und öffentlichen Diskurse zum Thema Nachhaltigkeit sein. Und der Blick ist zu weiten vom „Lernen Einzelner“ hin zum „Lernen ganzer Gesellschaften“. Dies erfordert auch das Verlernen so mancher Sichtweisen und Überzeugungen. Die Coronavirus-Krise könnte jener Anlass sein, der uns unsere Prioritäten neu setzen und den Paradigmenwechsel einleiten lässt.

Göpel, Maja: Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein, 2020. 208 S.

Die Rezension erscheint in unserem Büchermagazin „proZukunft 2020_2. Alle unsere Buchbesprechungen gibt es hier.