Die Europavordenkerin Ulrike Guérot erhielt auf Vorschlag der Robert-Jungk-Bibliothek den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung 2019. In zahlreichen Büchern, das bekannteste ist wohl „Warum Europa eine Republik werden muss“, plädiert die Politikwissenschaftlerin für ein auch politisch geeintes Europa. Dies tut sie auch in öffentlichen Auftritten im Kontext der Coronakrise, wie jüngst bei den Wiener Vorlesungen (online anzusehen). Ihr 2019 erschienenes Buch „Was ist die Nation?“ sei aktueller denn je, meint Rezensent Hans Holzinger.

„Fragt man, wo die Bürger die EU auf einer Skala von Null bis Zehn sehen, dann landen die meisten ziemlich genau in der Mitte bei Fünf. Fünf ist zu gut, um aus der EU auszutreten“, meint Guérot. Die Alternativen wären: „Von Fünf auf Null in Europa zurückfallen und desintegrieren. Oder sich sukzessive von Fünf auf die Zehn hocharbeiten, sich der Idee einer europäischen Nation annähern, Europa eine Verfassung geben, einen europäischen Staat gründen“ (S. 28f).

Derzeit werde eine Phantom-Debatte über die Identität der Nation geführt, weil die eigentlichen, funktionalen Elemente einer Nation – eine Einheitsvision, eine sozial integrierte Gesellschaft, Rechtsgleichheit und eine Machtprojektion – „in vielen heutigen europäischen Nationalstaaten nicht mehr funktionieren.“ (S. 34) In Friedenszeiten interessiere die Nation kaum jemanden, „in unruhigen oder Kriegszeiten gar aber tritt sie hervor“ (S. 36).

Genau das passiere gerade in Europa, ein Befund, der angesichts der Pandemie wohl an Bedeutung gewinnt. Denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Solidarität über die medienwirksam inszenierte Aufnahme einiger Schwererkrankter in Nachbarländern hinausreiche, etwa wenn es um das Zusammenstehen in Bezug auf das gemeinsame Stemmen der wirtschaftlichen Folgeprobleme geht. Die von Conti in Italien, Sanchez in Spanien und Macron in Frankreich geforderten sowie in einem Aufruf von ExpertInnen wie Peter Bofinger, Daniel Cohn-Bendit, Jürgen Habermas und Ulrike Guérot unterstützten Coronabonds sind vom Tisch; der Europäische Stabilitätsmechanismus (EMS) sowie Kredite der Europäischen Investitionsbank müssen reichen, so die sich durchsetzende Sichtweise etwa der deutschen Bundesregierung. Doch zurück zum Buch.

Nation ist mehr als Heimat und Identität

„Für Identität und Heimat – beides wichtige Dinge“ (S. 38) werde der Begriff der Nation bestenfalls missbraucht. Denn „emotionale, kulturelle Heimat und (sozial-)politischer Überbau“ seien zwei sehr verschiedene Dinge. „Erst wenn die Nation zur Heimat stilisiert wird, beginnt die Ideologie.Erst wo die Rechte unteilbar geworden sind, entsteht Nationalität (S. 48). Das Post-Krisen-Europa befinde sich, so eine zentrale These dieses Essays, in genau dieser historischen Situation: „Wir ringen um die Verschmelzung bzw. Verklammerung dieser Rechtstriade [politische, bürgerliche und soziale Rechte, Anm. HH) für alle europäischen Bürger zu gleichen Bedingungen.“ (S. 61)

Populismus im europäischen Norden und südeuropäischer Populismus würden sich gegenseitig aufschaukeln, so Guérot: „Perspektivisch kann das nur überwunden werden, wenn wir, erstens, über die soziale Frage gemeinsam entscheiden und zweitens, uns in Europa darauf einigen, die gleichen (sozialen) Rechte zu gewährleisten“ (S. 62). Und noch pointierter: „European Citizen zu sein heißt … mehr, als dass wir uns alle liebhaben und die gleichen Werte teilen. Der Begriff des Bürgers – des Citoyens – bedeutet, die gleichen Rechte zu haben.“ (S. 64)

Ökonomie und Soziales gehen nur gemeinsam

Seit Gründung der EWG quäle sich das europäische System mit der Notwendigkeit, „dass das Ökonomische nicht ohne ernsthafte Konsequenzen auf das Soziale zusammengeführt werden kann“ (S. 68). An dieser Erkenntnis druckse Europa seit einer Dekade herum. Vielleicht wisse dies Europa allzu gut, „aber will partout nicht B sagen?“ (S. 68). Da wir versäumt hätten, aus Europa in puncto Solidargemeinschaft eine Nation zu machen, gebe es heute, rund eine Dekade später, populistische Parteien auf dem europäischen Kontinent, „die mit nationalsozialen Parolen auf Stimmenfang gehen“ (S. 69), so Guérot. Von einer europäischen sozialen Marktwirtschaft zu sprechen, sei etwas ganz Anderes als von einem gemeinsamen Binnenmarkt: „Wo der Binnenmarkt nur auf Wettbewerb verweist, verweist der Begriff ´soziale Marktwirtschaft´ auf die Gesellschaft dahinter.“ (S. 74)

Guérot geht in der Folge auf den globalen Kapitalismus ein. Der nationale Geldadel und die nationalen Industrien hätten die heutigen Nationen schon lange im Stich gelassen: „Beide haben in großem Stil globalisiert.“ (S. 77) Die Autorin warnt auch vor einem Ausverkauf europäischer Unternehmen u. a. an China und der Schwierigkeit, etwa US-Datenkonzernen Steuerregeln zu setzen (S. 130ff). Doch im „Moment der Umcodierung der Nation auf ihre völkischen Ursprünge“ (S. 79) beginne der Kampf um Leitkulturen. Es finde, so Guérot, unter den europäischen Nationalstaaten derzeit eine doppelte Entsolidarisierung statt: „innerhalb der einzelnen europäischen Nationalstaaten und zwischen den europäischen Nationalstaaten“ (S. 81).

Und die Politikwissenschaftlerin diagnostiziert eine doppelte Bewegung: einen kulturellen Spaltungsprozess vor allem durch Urbanisierungsunterschiede einerseits („Der kleine Bauer in Rumänien hat mehr mit dem Bauern in Andalusien oder in Bayern zu tun, als mit einem städtischen Landsmann, zumal sie alle schon die gleichen für die europäischen Agrarsubventionen ausfüllen“ S. 88), die europäische Vergemeinschaftung durch Binnenmarkt und Euro andererseits, in denen uns „die sozioökonomischen Abhängigkeiten bewusst werden“ (S. 89).
„Die Zukunft der EU ist unsicherer denn je“ (S. 134), meint Guérot.

Ihre zentrale Forderung kurzgefasst: „Die Alternative wäre eine gesamteuropäische Katharsis, die Einsicht in die Tatsache, dass wir mindestens seit der letzten Dekade in einem neuen europäischen Währungs- und Krisenzusammenhang stehen und dass die beiden Topthemen aller europäischen Gesellschaften, nämlich das Soziale und die Sicherheit, dauerhaft nur gemeinsam durch die Schaffung einer europäischen Staatlichkeit gelöst werden können.“ (S. 135)

Nach der Finanzkrise 2008 bietet sich nun mit der Corona-Krise eine weitere Bewährungsprobe für ein zusammenwachsendes Europa. Der European Green Deal als Antwort auf die Klimakrise ist ein weiteres gemeinsames Handlungsfeld. Und das Thema des nicht gerade rühmlichen Umgangs mit den Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen wird ebenfalls zurückkehren. Von Ulrike Guérot lässt sich lernen, dass wir hier durchaus ambitionierter denken sollen.

Guérot, Ulrike: Was ist die Nation? Stuttgart: Steidl-Verlag, 2019