Gegen Atomkraft

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Demonstration gegen das AKW Temelin im Jahr 1993. Foto: Matthias Reichl

Der Atomstaat und seine Aktualität heute

Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im Gefolge des Erdbebens im März 2011 brachte der Weltöffentlichkeit schlagartig wieder die Risiken der Atomtechnologie in Erinnerung. Auch wenn von den Betreibern des Kraftwerks das Ausmaß der Katastrophe zunächst heruntergespielt wurde, sind die Folgen dramatisch.

In dem 1977 erschienenen Buch „Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ hat Robert Jungk eindrücklich vor „dem lebensfeindlichen Charakter“ dieser neuen Energie gewarnt. Die Warnungen sind leider aktuell geblieben.
[Der Text basiert auf einem Vortrag von Hans Holzinger, gehalten am 30. 4. 2009 an der Universität Paris im Rahmen eines Projekts über die Wahrnehmung der Atomtechnologie in Deutschland.]

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn ´Atome für den Frieden´ unterscheiden sich prinzipiell nicht von ´Atomen für den Krieg´. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie.“ (Der Atomstaat S. 9)

EINFÜHRUNG

Ein neuer Begriff für eine neue Gefahr

Robert Jungk hat den Begriff „Der Atomstaat“ erstmals bei einer Kundgebung gegen das deutsche Atomkraftwerk Brokdorf am 19. 2. 1977 verwendet. Die Stimmung bei der Demonstration war ziemlich aufgebracht, es gab ein riesiges Polizeiaufgebot und brutale Gewaltanwendung gegen Demonstranten – gesprochen wurde von der „Schlacht um Brokdorf“. Offensichtlich wollte man ein Exempel statuieren, um vor weiteren Kundgebungen abzuschrecken. Erfreulicherweise gab es keinen Toten, wie kurz davor bei einer Demonstration gegen den Schnellen Brüter im französischen Malville, die Stimmung muss aber auch hier – so Jungk – bedrohlich gewesen sein.

Er habe den Begriff „Atomstaat“ nicht am Schreibtisch vorbereitet, sondern dieser sei „wie eine plötzliche Eingebung“ in seinem Kopf während der Rede aufgetaucht, schreibt Jungk in seinen Memoiren (Trotzdem, 1994, S. 463). Dass Rudolf Augstein den Begriff im deutschen Politmagazin „Der Spiegel“ aufgriff, machte diesen bekannt.

Dazu passte, so Jungk weiter, dass nur wenige Tage nach der Demonstration nahe Brokdorf die „Affäre Traube“ bekannt wurde. Dr. Klaus Traube, Wissenschaftler und Manager der Firma Interatom, die für den deutschen „Schnellen Brüter“ in Kalkar verantwortlich zeichnete, war monatelang in Komplizenschaft mit den Behörden aufgrund eines völlig falschen Verdachts abgehört und bespitzelt worden. Klaus Traube, der ja auch in dieser Vorlesungsreihe zu Gast war, wurde zu einem entschiedenen Gegner der Atomenergie.

Das noch im selben Jahr erschienene Buch, das über die Strahlungsrisiken der Atomenergienutzung hinaus, die demokratiepolitischen Gefahren dieser Hochrisikotechnologie thematisierte, bekam dann eben den Titel „Der Atomstaat“. Jungk beschreibt darin in einzelnen Kapiteln unterschiedliche Aspekte und Betroffenengruppen der Atomenergienutzung.

Lebensfeindlicher Charakter dieser neuen Energie

Gleich in der Einleitung, überschrieben mit „Der harte Weg“ [„La voi dure“], bezieht Jungk eindeutig Position. Das folgende etwas längere Zitat gibt nicht nur Auskunft über die Haltung des Kritikers industrieller Großtechnologien, sondern vermittelt auch einen Eindruck von der Kraft, die in Jungks Sprache liegt. Er schreibt einleitend zum „Atomstaat“:

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn ´Atome für den Frieden´ unterscheiden sich prinzipiell nicht von ´Atomen für den Krieg´. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, dass es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzustehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, dass jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muss.“ (Der Atomstaat, Ausgabe 1984, S. 9).

Und weiter: „Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit: sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.“ (ebd. S. 9)

Sein Buch sei „in Angst und Zorn geschrieben“: „In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben“, so Jungk. Viele würden meinen, über Technologien müsse ohne Emotionen gesprochen werden. Doch dies sei die heutige Version der biedermeierlichen Beschwichtigung: „Ruhe ist erste Bürgerpflicht“, meint Jungk. „Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumszukunft mit sich bringen muss, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet“, so Jungk weiter, „wirkt an ihrer Verharmlosung mit“. Es gebe Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen müsse, einer Entwicklung gegenzusteuern und das zu verhindern, „was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.“ (alle Zitate ebd. S. 10)

Vom Philosophen und dem Reporter des Atomzeitalters

Günter Anders kann wohl als „Philosoph des Atomzeitalters“ bezeichnet werden. In „Die Antiquiertheit des Menschen“ [Band 1, 1956] hat er die Monströsität der Atomtechnologie sowie der Atombombe aufgezeigt, die das menschliche Kontrollvermögen übersteigt und somit zur Selbstauslöschung der Menschheit führen könnte.

Der Ethiker Hans Jonas hat dieses Dilemma in der Folge auf den grundsätzlichen Umgang des Menschen mit der Ökosphäre ausgeweitet, etwa im Kontext des Klimawandels, wenn er davon spricht, dass die Wirkkreise des Menschen seine Verantwortungskreise überschritten haben. Jonas leitet daraus eine Verantwortungsethik ab, die zu einer Antizipation von Gefahren fähig ist und zur Umsteuerung führt, ehe es zur Katastrophe kommt (da diese eben irreversibel sei). Später hat der Soziologe Ulrich Beck hierfür den Begriff „Risikogesellschaft“ geprägt.

Robert Jungk könnte in diesem Sinne der bislang wohl bedeutendste Berichterstatter, Aufklärer und Agitator des Atomzeitalters bezeichnet werden. Auch er sieht in der Irreversibilität von Prozessen, die durch die Atomspaltung angestoßen werden, das Hauptproblem. Diese sei eine „ganz neue historische Erfahrung“. „Ist ein Reaktor einmal angefahren, dann werden damit Prozesse in Gang gesetzt, die man auf lange Zeiten hin nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Generationenlang andauernde radioaktive Zerfallsvorgänge mit ihren Strahlengefahren für alles Lebendige müssen von da an sorgfältigst und in Permanenz kontrolliert werden.“ (ebd. S. 14) So ist der Atommüll auch heute das noch immer verdrängte Problem, das künftigen Generationen aufgebürdet wird. Plutonium hat etwa eine Halbwertszeit von 27.000 Jahren, das entspricht an die 500 Generationen.

ZUM BUCH

Kapitel 1: „Das Strahlenfutter“ – die Mitarbeiter der AKWs als erste Opfer

Doch nun zum Aufbau des Buches „Der Atomstaat“, das sieben Kapitel umfasst. Gleich im ersten Kapitel widmet sich Jungk jenen, die am unmittelbarsten den Strahlengefahren ausgesetzt sind, auch ohne dass es zu einem Unfall kommt, nämlich die Arbeiter in den Kernkraftwerken. Das Kapitel ist überschrieben mit „Das Strahlenfutter“ [„Viande a Rems“].

Jungk beschreibt darin die Sorgen und den allmählich wachsenden Protest der Arbeiter der ersten französischen Wiederaufbereitungsanlage in La Hague. 1967 war das erste Werk dieser Art errichtet worden, 1976 – die Zeit der beginnenden Proteste – wurde die zweite Anlage durch die COGEMA (Compagnie Génerale de Matières Nucléaires“) geplant. Da es zu dieser Zeit nur wenige Wiederaufbereitungsanlagen gab – West Valley in den USA musste aus Sicherheitsgründen gesperrt werden, Windscale in Großbritannien war überlastet –, sollten die Franzosen das große Geschäft mit der Wiederanreicherung von Uranbrennstäben machen. Aus Deutschland, Holland, Schweden, Spanien und auch Japan wurde Material „verarbeitet“. Dazu kam, La Hague und Windscale die ersten derartigen Großanlagen darstellten, wobei viele Sicherheitsfragen noch ungeklärt waren. Der Ort „La Hague“ an der Nordspitze der Normandie wurde ausgewählt, weil die Region dünn besiedelt war, die Lage am Meer den Antransport des anzureichernden Materials leichter bewerkstelligen ließ und auch eine gute Möglichkeit bot, Abwässer zu entsorgen. Als einen weiteren Grund für die Standortwahl nennt Jungk in seiner Reportage die starke, auf den Ozean hinausziehende Strömung. Sie sollte dafür sorgen, „dass das Gift möglichst schnell vom französischen Ufer weggespült“ wird. Für den Standort, den die französische Atombehörde bereits Ende der 50er-Jahre ausgewählt hatte, sollten, so Jungk weiter, noch andere Faktoren gesprochen haben: „Die besonders starke Windgeschwindigkeit, die alle radioaktiven Gase schnell verwehen würde, die Beschaffenheit des Bodens, der sich ihrer Ansicht nach zumindest für die mittelfristige Lagerung von Atommüll eignet, und die zwar offiziell nicht zugegebene, aber doch durchgesickerte Überlegung, dass eine vom Meer umspülte Halbinsel im Katastrophenfall leichter vom Rest des Festlandes abzuriegeln wäre als ein im Landesinneren gelegener Katastrophenort.“ (ebd. S.31)

Zu den Stärken von Jungks journalistischer Tätigkeit gehörte, dass er nicht nur brisante neue Studien an die Öffentlichkeit brachte, sondern dass er immer auch vor Ort recherchierte und sich einließ auf Gespräche mit ExpertInnen, Gegnern wie Befürwortern der Atomenergie, mit als Anrainer von Anlagen Betroffenen und – im Falle von „La Hague“ – eben auch mit Arbeitern bzw. Gewerkschaftler der Atomanlagen. Gesprächspartner waren u.a. Bernhard Laponche, Physiker, Mitarbeiter der französischen Atombehörde und führender Funktionär des vorwiegend sozialdemokratisch und christlich orientierten Gewerkschaftsbundes CFDT (Conféderation Francaise de Travail), der öffentlich auf die Sicherheitsmängel der Atomanlagen hinwies, oder Daniel Cauchon, der führend an Widerstandsaktionen, etwa einem Streik von September bis Dezember 1976, mitwirkte und Jungk Einblick gab in die Belastungen, denen die „Atomarbeiter“ ausgesetzt waren. Chauchon berichtete ihm auch, dass zusehends Leiharbeiter, so genannte „interimaires“ eingesetzt wurde, da so die Überprüfung des Gesundheitszustandes der Arbeiter an diese Firmen „ausgelagert“ wurde. So sei mehrmals die vorgeschriebene Einsendung von Kontrollfilmen an die Gesundheitsbehörde – an ihnen kann die jeweilige Tagesdosis, die Mitarbeiter abbekommen hatten, abgelesen werden – „vergessen“ worden.

Dass Jungk diese Berichte über die prekäre Lage der Arbeiter in den Atomanlagen an den Anfang des Buches stellte, war eine geschickte Strategie, weil so glaubwürdig die Risiken dieser Technologie dargestellt werden konnte. Die Arbeiter (und deren Gewerkschaften) waren ja nicht grundsätzlich gegen die Atomkraft, die ihnen den Job gab, sondern traten ein für bessere Schutzmaßnahmen. So schreibt Jungk: „Dank der kritischen Gewerkschafter von La Hague habe ich Einblick in eine Arbeitswelt bekommen, wie es sie beängstigender nie zuvor gegeben hat. Hier büßen die Menschen nicht nur ihre Gesundheit ein, sondern auch ihre Sprache und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Von sich selbst sprechen sie – den Begriff ´Kanonenfutter´ auf ihre Verhältnisse übertragend – als `Strahlenfutter´“ (ebd. S. 20). Und an anderer Stelle: „Der atomare Sysiphus hat es ungleich schwerer als sein mythischer Vorfahre. Seine Lasten sind nicht nur schwer, sie sind zudem noch giftig. Die niemals endende Anstrengung, die ihm abverlangt wird, strapaziert sowohl seine körperlichen Kräfte wie seine seelische Widerstandsfähigkeit. Die Angst vor den unsichtbaren Strahlen, die ihn treffen könnten, macht ihm ebenso zu schaffen wie die Isolation im Schutzpanzer, der er bei solchen Arbeiten tragen muss.“ (ebd. S. 21)

Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie weit Jungks Reportagen über la Hague – das Buch erschien in Frankreich 1979 – zur Sensibilisierung der französischen Öffentlichkeit beigetragen haben. Ich kenne auch nicht die Arbeitssituation der Arbeiter in den Atomanlagen heute. Fest steht, dass der Mut der Arbeiter damals, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, zumindest zu strengeren Sicherheitsvorkehrungen geführt hat.

Kapitel 2: „Die Spieler“ – Atomforscher

Im zweiten Abschnitt des Buches geht es um jene Atomwissenschaftler, die eine rosige Energiezukunft versprechen, wenn wir uns auf die Kernspaltung einlassen. Sie nennt Robert Jungk „Die Spieler“ [„Les Joueurs“]. Einer von ihnen war Prof. Rolf Häfele, der 12 Jahre an Kernforschungszentrum Karlsruhe tätig war und als einer vehementesten Befürworter der „Schnellen Brüter“ galt, einem Kernkraftwerkstyp, der Plutonium als Kernbrennstoff hat, noch höhere Temperaturen als Leichtwasserreaktoren erfordert und Cadmium (statt Wasser) zur Kühlung verwendet. Schnelle Brüter sollten noch mehr Energie liefern, gelten Aber als noch bedeutend gefährlicher als andere Reaktortypen, da es bei Kernschmelze zu einer richtigen Atomexplosion kommen kann. Von Spielern spricht Jungk, weil sie mit dem Leben anderer spielen und dabei kritische Studien ignorieren bzw. lächerlich machen – das Buch zeigt Beispiele – und weil es bei diesem neuen Typ von Wissenschaftlern auch um riesige Summen Geld geht, die zu verdienen sind, wenn es gelingt, der Politik Projekte schmackhaft zu machen. Ich komme darauf zurück.

Kapitel 3: „Homo atomicus“ – Fehlbarkeitsfaktor Mensch

Im dritten Kapitel „Homo atomicus“ schildert Jungk Bestrebungen, den Fehlbarkeitsfaktor Mensch weitgehend auszuschalten. Dies geschehe zum einen durch Robotisierung, zum anderen durch harte Ausleseverfahren und Trainings für die Mitarbeiter. Besonders komme es darauf an, ´dass das Personal bei Störfällen nicht den Kopf verliert´. „Ein frommer Wunsch“, schreibt Jungk, „wie die Ereignisse von Three Mile Island bewiesen haben“ (ebd. S. 66) Dass menschliches Versagen nie auszuschließen ist, haben viele weitere Störfälle in der Zukunft gezeigt, nicht zuletzt der GAU (= größtmöglicher anzunehmender Unfall) von Tschernobyl.

Zu Recht kritisiert Jungk auch die von den Experten verwendete technokratische Sprache, wenn vom Personal als „Lifeware“ gesprochen wird – in Ergänzung zur Hardware der Computer und der Software der dazugehörigen Programme. Und er problematisiert, dass sich offensichtlich niemand daran stört, wenn bei der Personalauslese auch staatliche Überwachungsorgane beigezogen werden, was nicht nur für die Angestellten der Kernkraftwerke galt, sondern auch für die Zulieferbetriebe.

Grotesk oder auch aufschlussreich klingt eine von Jungk wiedergegebene, in der deutschen Wirtschaftswoche vom 4.3.1977 publizierte Liste über mögliche Ausschlusskriterien für MitarbeiterInnen, die deutsche Unternehmen auf Befragung angegeben hatten: Darunter finden sich Raucher (Begründung: höhere Krankheitshäufigkeit, erhöhte Nervosität), Homosexuelle (Begründung: unsympathisch, unfähig für bestimmte Positionen wie Ausbilder, Personalchef), Frauen (Begründung: vermeintliche Nichteignung als Führungskräfte, mögliche Schwangerschaften), Ausländer (Begründung: vermeintliche Unzuverlässigkeit, Kunden-Vorurteile), Absolventen bestimmter Fächer der FU Berlin und der Universität Bremen (Begründung: Herkunft aus vermeintlich marxistischen Kaderschmieden). Ähnliche oder sogar noch rigorosere Kriterien könne man dort vermuten, schlussfolgert Jungk, „wo die Betriebsleitung besonders vorsichtig sein will – besonders in der Atombranche“. (ebd. S. 68)

Beinahe wie eine Anekdote klingt da das geschilderte Beispiel, dass einmal ein großer Bauteil einer Kraftwerksanlage wieder demontiert werden musste, weil das Gerücht kursierte, dass ein Bauarbeiter als Sabotageakt eine Bombe mit ein betoniert haben soll, was sich dann freilich als Irrtum herausstellte.

Warum nennt Jungk dieses Kapitel „Homo Atomicus“? Weil er nicht nur ironisch meint, dass man wohl an der gentechnischen Züchtung des perfekten, fehlerfreien Menschen arbeite, um diesen „Störfaktor“ in den Griff zu kriegen.

Kapitel 4: „Die Eingeschüchterten“ – Unbequeme zum Schweigen bringen

Im vierten Kapitel „Die Eingeschüchterten“ [„L´Intimi­dati­on“] schildert Jungk Schikanen, denen jene ausgesetzt wurden, die der Atomlobby gefährlich werden konnten, weil sie als Insider das Schweigen über Missstände brachen, oder einfach, weil ihr Widerstand zu große Wirkung befürchten ließ. Der deutsche Ingenieur Ingo Focke aus der berühmten Flugzeugdynastie Focke, der zum Atomkraftgegner geworden war, nachdem er Unkorrektheiten in seiner Firma, einem Zulieferbetrieb für Atomkraftwerke, nicht mehr mittragen wollte, berichtete Jungk, wie sein Auto und auch das anderer AKW-Gegner manipuliert wurden. Schlimmer als diese Vorfälle, die glimpflich endeten, war der von Jungk ebenfalls dargestellte „Fall Karen Silkwood“. Die 28-jährige Laborantin, die im zum KerrMcGee-Konzern gehörenden „Cimarron-Plutoniumwerk“ arbeitete, verunglückte in ihrem Wagen tödlich. Laut offiziellen Angaben ist sie an zu starken Beruhigungsmitteln eingeschlafen. Der Verdacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei, kam jedoch auf, so schreibt Jungk, „als zwei Männer, die in der Nähe des Unfallortes auf sie gewartet hatten – der bekannte Reporter der New Jork Times, David Burnheim, und Stefen Wodka, Gewerkschaftssekretär der Oil, Chemical and Atomic Workers – feststellten, dass ein wichtiges Dossier, das sie ihnen bringen wollte, nach dem Unfall verschwunden war“ (ebd. S. 83f). Am 18. Mai 1979 erhielten die Eltern von Karen Silkwood nach einem jahrelangen Rechtsstreit 10,5 Millionen Dollar Schadenersatz (was freilich die Tochter nicht wieder lebendig machte); die Plutoniumfabrik wurde von der Gesundheitsbehörde geschlossen.

Jungk, der auf der „Internationalen Konferenz für eine nicht-nukleare Zukunft“ im Mai 1977, einen „Hilfsfonds für dissidente Forscher“ vorgeschlagen hatte, berichtet in diesem Kapitel von weiteren ähnlichen Vorfällen, etwa über Leo Kowarski, einem Pionier der französischen Atomforschung, der um sein Leben fürchtete, weil er sich gegen den Bau „Schneller Brüter“ ausgesprochen hatte. Keiner der geschilderten Fälle wurde – unseres Wissens – auf Entgegnung geklagt.

Kapitel 5: „Die Weiterverbreiter“ – Gefahr der Proliferation

Im fünften Kapitel „Die Weiterverbreiter“ [„L´ere de la Proliferation“] beschreibt Jungk zunächst die Euphorie in den USA, Atomenergie zur Zukunftsenergie für die ganze Welt zu machen, propagiert unter dem Motto „Atome für den Frieden“. Ein Bestreben, das jedoch nach Bekanntwerden der Möglichkeiten, dass „friedliche“ Atomtechnologien durchaus für militärische Zwecke missbraucht werden könnten, zurückgezogen wurde. Im September 1977 hatten die USA im Atomtestgelände Nevada erfolgreich eine Bombe gezündet, die nur mit Plutonium „normaler Reaktorqualität“ gefüllt war. Einer der Hauptberater im Weißen Haus, Albert Wohlstetter, soll laut Jungk daher erwirkt haben, dass in den USA die Weiterentwicklung des „Schnellen Brüters“ sowie die Errichtung und der Export von Wiederaufbereitungsanlagen untersagt wurde. Der Experte habe dabei ausdrücklich davor gewarnt, dass Japan und Deutschland, falls sie ihre Atompläne verwirklichten, bereits in den 1990er-Jahren über genügend Plutonium verfügten, um Atomsprengköpfe herzustellen. In dieses Bild passen die von Jungk ebenfalls dargestellten intensiven Atombeziehungen Deutschlands zum Apartheid-Südafrika (Errichtung einer Großanlage zur Urananreicherung im Atomzentrum Pelindaba) sowie zu Argentinien (deutsche Mitarbeit an einer Wiederaufbereitungsanlage).

Zu den politischen Kontakten zu Südafrika schreibt Jungk: „Gerhard Stoltenberg – seit seinem forschen Eingreifen in Brokdorf für seine Kernkraftsympathien weit bekannt – flog sowohl im August 1973 wie im August 1975 an die Südspitze des schwarzen Kontinents. Beide Male hielt er sich einige Zeit im Reaktorzentrum Pelindaba auf. Franz Josef Strauß, Deutschlands erster Atomminister und ab 1956 als Verteidigungsminister engagierter Vertreter einer atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik, war seit 1971 mindestens viermal in Südafrika und hat die Herren der südafrikanischen Atombehörde mehrmals in München empfangen.“ (S110f) Verdächtig wären diese Besuche vor allem durch die Geheimniskrämerei geworden, meint Jungk, denn Beweise für die Beschaffung von Plutonium für deutsche Atomraketen hat es natürlich nie gegeben.

Dass die Problematik der Proliferation keineswegs vom Tisch ist, beweist der Dauerkonflikt mit dem iranischen Atomprogramm, den die Internationale Atomenergiebehörde (IEAO) zu entschärfen versucht.

Kapitel 6: „Atomterroristen“ – Plutoniumschmuggel

Auch die im sechsten Kapitel „Atomterroristen“ [„Le terrorism nucleaire“] beschriebene Problematik, dass Nuklearsprengstoff in die Hände von Terroristen gelangen könnte, ist wohl auch heute nicht gebannt. Der Verbleib fehlenden spaltbaren Materials, der bei den vielen Anlagen weltweit jährlich verloren geht, kann nie lückenlos aufgeklärt werden. Von Jungk zitierte Studien zeigen auch Befürchtungen, dass Mitarbeiter von Atomkraftwerken selbst zu Uran- bzw. Plutoniumschmuggler werden könnten, um damit Geld zu machen. In einem Bericht des US-Office of Technology Assessment heißt es: „Wenn jeder (Mitarbeiter einer Wiederaufbereitungsanlage) nur ein Gramm Plutonium pro Tag herausschmuggeln würde, eine Menge, die wahrscheinlich zu gering ist, um entdeckt zu werden, könnte er pro Jahr 5000 Dollar oder ein Vielfaches davon verdienen.“ (zit. S. 132) Allein im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und den teilweise desolaten Zuständen in der Nachfolgearmee der Atommacht Russland könnte genügend Spaltbares Material freigeworden sein.

Kapitel 7: „Die Überwachten“ – Freiheitsrechte

Im siebten Kapitel „Die Überwachten“ [„La Surveillance“] schildert Jungk schließlich die grundsätzliche Gefahr der Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten, zu der neben dem damals akut werdenden politischen Terrorismus [„Deutscher Herbst“ 1977, RAF = linksextremistischen Terrororgani­sation Rote Armee Fraktion in Deutschland] die zunehmenden „Sicherheitsrisiken“ der rasch an Zahl zunehmenden Atomanlagen führten. Zitat: „Der Doppelantrieb von Terror- und Atomfurcht wird die Industriestaaten dazuzu veranlassen, alle `Erkenntnisse´, die über ihre Bürger in den verschiedensten staatlichen und privaten Datenbanken gehortet sind, bei Bedarf zu einem einzigen Warn- und Kontrollsystem von nie zuvor gekannter Dichte zusammenzuschalten.“ (S. 141)

Jungk berichtet in diesem Abschnitt auch von Zensurakten für Medien. So habe man bereits in den 1950er-Jahren den Daily Express daran gehindert, einen Bericht über Fehler und Versäumnisse beim Bau der Wiederaufbereitungsanlage Windscale in Großbritannien zu publizieren.

Ausblick: „Der sanfte Weg“

Im Ausblick des Buches – er trägt den Titel „Der sanfte Weg“ [„La voie douce“] – stellt Jungk nochmals grundsätzliche Überlegungen an. Der Widerstand gegen Kernkraftwerke mache deutlich, dass die Atomfrage zum auslösenden Moment einer Auseinandersetzung geworden sei, die über ihren unmittelbaren Anlass hinaus reicht. Zitat: „Zur Debatte steht nicht nur die künftige Energieversorgung, sondern auch die der Herrschaft. Der Konflikt geht nicht nur um eine bestimmte Technik, sondern um alle Erscheinungsformen und Machteinflüsse der großindustriellen Technologie.“ Und weiter: „Dahinter steht die noch umfassendere Frage, ob die bisherige, auf Unterwerfung und Ausbeutung zielende Richtung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für den Menschen noch taugen können.“ (beide Zitate S. 147)

Jungk äußert sich jedoch optimistisch hinsichtlich des weiteren Anwachsen der Bürgerbewegungen: „All diejenigen, die mit der Bewegung gegen die Kernkraftwerke ausschließlich die Vorstellung von Protest oder gar Gewalt verbinden, sollten verstehen, dass diese Menschen nicht nur Gegner sind, sondern in erster Linie für etwas eintreten“, schreibt er. „Für die Erhaltung ihrer bedrohten Existenz haben die Bauern von Wyhl, Saint Laurent, Kalkar und Brokdorf demonstriert. Für ihre Gesundheit gingen die Arbeiter von La Hague auf die Straße. Für die Erhaltung der Umwelt wurde der Bauplatz von Seabrook (USA) besetzt, für ihre Nachkommen und die bedrohte Zukunft der Kommenden sind Japaner, Basken, Italiener und Holländer in Hungerstreik getreten, für die von Uranabbau bedrohten Urbewohner ihres Landes traten die australischen Docker in den Ausstand. Für weiteste demokratische Mitbestimmung bei der Vorbereitung technischer Großprojekte, die zum Großteil aus Steuergeldern finanziert werden, kämpften Atomgegner in Gösgen, Barsebeck und Zwentendorf.“ (ebd. S.148 f) [Anmerkung: Letzteres ist Österreichs einziges, nie in Betrieb gegangenes Atomkraftwerk. Vor dem Hintergrund des massiven Ausbaus der Atomenergie in Tschechien (Temelin) und der Slowakei (Mohovce), die zu einer Anti?Atombewegung in diesen Ländern geführt hat, wurde das Buch „Atomstaat“ übrigens 1994 in tschechischer Übersetzung vorgelegt.]

Zu Recht verweist Jungk abschließend darauf, dass eine andere Energiepolitik ohne Risikotechnologien eines anderen Lebensstils und Bewusstseins bedarf. Er ist auch hier optimistisch und spricht von einer neuen sich anbahnenden „Internationale“, deren Denkweise bestimmt sei von einem „Bekenntnis zu einem bescheidenen Leben“. Diese neue Internationale sei gewachsen aus der Erkenntnis, „dass die materiellen Grundlagen der Menschheit begrenzt sind und die bisherige Verschwendungswirtschaft der Industrienationen einem Ende zugehen muss.“ Denn: „Nicht eine Zukunft unbegrenzten Reichtums“ stehe uns bevor, „sondern eine der Verknappungen“. Damit greift Jungk auf, was der Club of Rome mit den „Grenzen des Wachstums“ (1972) erstmals formuliert hatte und was seit den 1990er-Jahren mit dem Diskurs über Nachhaltigkeit ausgedrückt wird.

Eng verbunden mit dieser neuen Denkweise sei zweitens, so Jungk weiter, „das Streben nach Gerechtigkeit“. Eine Internationale, die es mit der Solidarität ernst nimmt, müsse die gewaltigen Unterschiede im Lebensniveau der ´entwickelten´ und ´weniger entwickelten´ Länder ernster nehmen als bisher (alle Zitate, ebd. S. 150).

Mit beiden Feststellungen hat Jungk Recht, wo er sich freilich – zumindest bislang – geirrt hat, ist, dass diese neue Internationale zur bestimmenden, geschichtsmächtigen Größe werden wird.

Mehr:
Hans Holzinger: Sonne statt Atom. Die Debatten über die Zukunft der Energieversorgung seit den 1950er-Jahren bis heute und die Rolle Robert Jungks. JBZ, Salzburg 2013. mehr…

Mehr über Robert Jungk und …
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