Albert Schweitzer. Biographie (1955)

albertschweitzerIn seiner Kritik am naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben war Robert Jungk wesentlich vom Denken Albert Schweitzers beeinflusst, über den er 1955 – was nur wenige wissen – eine Biographie verfasste. Aufgrund der vertraglichen Bindung an den Verlag des ersten Bucherfolges »Die Zukunft hat schon begonnen« musste diese unter Pseudonym – Jungk wählte den Namen Jean Pierhal – erscheinen. Im Vorwort, das er unter seinem richtigen Namen verfassen durfte, hebt Jungk Schweitzers Kritik am „Versagen der Philosophie“ und der „Abdankung der Kultur“ im naturwissenschaftlichen Zeitalter hervor, eine Kritik, die das Weltbild des Schweitzer-Biographen wohl nachhaltig geprägt hat.

Aus: Vorwort zu: Albert Schweitzer. Biographie. Hier zit. n. Neuausgabe 1979, S.8f.

(…) Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so stellt Schweitzer fest, habe die Abdankung der Kultur gegenüber der Wirklichkeit begonnen. Kampflos und lautlos habe sich dieses schicksalsschwere Ereignis vollzogen, und die meisten Zeitgenossen hätten es nicht einmal bemerkt. „Wie ging dies zu?“ fragt Schweitzer. Seine Anklage lautet klipp und klar: „Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.“

Nie hätte ich gedacht, daß der freundliche Professor mit dem etwas wirren vollen Haar und dem spitzbübischen Augenzwinkern eine so scharfe Klinge schlagen könnte. Schon um die Jahrhundertwende hatte er dem gedankenlosen Optimismus seiner Zeitgenossen nicht getraut, sondern tief beunruhigt die klaren Vorzeichen kommenden Unheils bemerkt. Der Erste Weltkrieg überraschte ihn darum nicht, sondern schien ihm nur die nun jedermann sichtbare Folge des fortschreitenden Kulturverfalls zu sein. Unmittelbar nach dem Kriege kündigte Schweitzer warnend eine zweite Katastrophe an. Die Selbstvernichtung der Kultur gehe weiter, erklärte er. Das, was von ihr noch stehe, sei nicht mehr sicher, ein neuer Erdrutsch könne es mitnehmen.

Und über drei Jahrzehnte später, als auch die zweite schmerzliche Prophezeiung sich erfüllt hat, stößt Albert Schweitzer dann zum dritten Male seine Warnung aus. Er steht, nun fast achtzig Jahre alt, schon sehr müde, aber doch immer noch aufrechterhalten vom Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen, in der Aula der Universität Oslo und ruft aus:

„Wagen wir es, der Situation ins Gesicht zu sehen! Der Mensch ist zum Übermenschen geworden. Er ist nicht nur deshalb ein Übermensch, weil er über angeborene physische Kräfte verfügt, sondern weil er darüber hinaus, dank der Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, die in der Natur schlummernden Kräfte beherrscht und zu nutzen versteht … Aber der Übermensch … hat sich nicht auf das Niveau übermenschlicher Vernunft erhoben, die dem Besitz übermenschlicher Kraft entsprechen sollte … Der Übermensch wird, im gleichen Maße wie seine Macht sich vergrößert, mehr und mehr ein armer, armer Mensch. Um sich nicht der Zerstörung, die von oben auf ihn herunterprasselt, völlig auszusetzen, muß er sich unter die Erde eingraben wie die Tiere des Feldes … Die wesentliche Tatsache, die unser Gewissen aufrütteln muß und der wir schon seit langer Zeit eingedenk sein sollten, ist, daß wir um so unmenschlicher werden, je mehr wir zu Übermenschen emporwachsen.“

„Die Größe Albert Schweitzers zeigt sich nun darin, daß es ihm nicht genügte, seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besorgt zu beobachten und zu diagnostizieren, sondern auch intensiv über Mittel zu ihrer Heilung nachzudenken.“

Die Größe Albert Schweitzers zeigt sich nun darin, daß es ihm nicht genügte, seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besorgt zu beobachten und zu diagnostizieren, sondern auch intensiv über Mittel zu ihrer Heilung nachzudenken. Woran lag es denn, daß die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ihre führende kulturgründende Stellung eingebüßt hatte? Wie hatte es kommen können, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Riesenkind Technik unmenschlich wurden? Schweitzer glaubte die Ursache des Leidens in einer wichtigen Mangelerscheinung gefunden zu haben: dem Fehlen ethischer Ideen, ohne die keine lebensbejahende, lebenserhaltende und lebensfördernde Kultur gedeihen könne. Aus der Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist – und um diese Erkenntnis haben sich bisher Philosophie wie Naturwissenschaften hauptsächlich bemüht – sei allerdings keine ethische Weltanschauung zu gewinnen. (…)

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