Der Atomstaat (1977)

 

letaatomiqueDie Erkenntnis, dass friedliche und militärische Nutzung der Atomenergie nicht von einander zu trennen sind, macht Jungk zum Fürsprecher auch jener Bewegung, die sich Mitte der 70er Jahre mit dem Widerstand gegen neue Atomkraftwerke in der BRD bildet und unter dem Motto »Atomkraft – Nein danke« den generellen Ausstieg aus der Atomindustrie fordert.

Das 1977 erschienende Buch »Der Atomstaat« – es wurde 1994 übrigens ins Tschechische übersetzt – thematisiert die Risiken von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Uranlagerstätten sowie die Auswirkungen der notwendigen »Schutzmaßnahmen« auf die demokratische Gesellschaftsordnung. »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg« heißt es im Vorwort zu diesem Buch, das nicht nur durch die sich häufenden Fälle des Schmuggels von waffenfähigem Plutonium seine Aktualität behalten hat.

Vgl. auch „Der Atomstaat und seine Aktualität heute“ [ Rubrik Anti-Atom]

Aus: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Hier zit. nach rororo-TB-Ausgabe, Hamburg 1979, S. 9-11.

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, daß es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzusehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, daß jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muß.

Nicht nur würde eine durch technisches Versagen, menschliche Unzulänglichkeit oder böswillige Einwirkung hervorgerufene Atomkatastrophe unmittelbar größten Schaden stiften, sondern über Jahrzehnte, Jahrhunderte, unter Umständen sogar Jahrtausende weiterwirken.

Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft, wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit, sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.

Solch dunkle Möglichkeiten müssen auch den Befürwortern der Atomindustrie bekannt sein. Sie sind allerdings überzeugt, sich und ihre Mitbürger schützen zu können, indem sie Sicherheitsmaßnahmen einführen, wie sie es nie zuvor gab. Müßte dieser Schutz nur technischer Natur sein, dann wäre er vor allem ein Problem der Ingenieure und – wegen seiner besonders hohen Kosten – der Ökonomen. Aber diese Erfindung der Menschen muß ja zudem so streng wie keine andere vor den Menschen selbst bewahrt werden: vor ihren Irrtümern, ihren Schwächen, ihrem Ärger, ihrer List, ihrer Machtgier, ihrem Haß. Wollte man versuchen, die Kernkraftanlagen dagegen völlig immun zu machen, so wäre die unausweichliche Folge ein Leben voll Verboten, Überprüfungen und Zwängen, die in der Größe der unbedingt zu vermeidenden Gefahren ihre Rechtfertigung suchen würden.

Diese Konsequenzen klarzustellen und über sie nachzudenken, ist sowohl für die Gesellschaft wie für jeden einzelnen dringlich, da die sozialen und politischen Wirkungen der Kernkraft bisher hinter dem Studium der biologischen und ökologischen Effekte zurückstanden. Die folgende Schrift will dazu den Anstoß geben. Sie ist in Angst und Zorn geschrieben. In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben. Man wird mit Sicherheit den Einwand erheben, über diese Problematik müsse ohne Emotionen geschrieben und gesprochen werden. Das ist die heutige Version der biedermeierlichen Beschwichtigung: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumzukunft mit sich bringen muß, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muß, eine Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.

Auf solch einer irrigen Kalkulation beruhte die Vorstellung, daß die zerstörerische Wirkung der Atombombe – wenn überhaupt – nur in Auseinandersetzungen zwischen Staaten ins Spiel gebracht würde. Seit kurzem aber müssen wir auf Grund eingehender Untersuchungen annehmen, daß auch innergesellschaftliche Konflikte die gefürchtete »nukleare Schwelle« einmal überschreiten könnten. Atomsabotage und Atomterror können nicht mehr ausgeschlossen werden, sobald die Menge der bei der Kernkraftproduktion anfallenden Spaltstoffe immer größer wird. Und das wird schon sehr bald der Fall sein. Besonders erschreckend ist die Einsicht, daß Gangster, Putschisten oder Terroristen mit einer solchen Waffe, wenn sie einmal in ihre Hände geriete, vermutlich viel skrupelloser umgehen würden als Staatsmänner und Generalstäbler. Die radikale Atomabrüstung, die unmittelbar nach den Schreckensstunden von Hiroshima und Nagasaki verlangt wurde, müßte daher jetzt, da die Ausweitung der »friedlichen Kernkraft« das Risiko von Atom-Bürgerkriegen näherbringt, mit noch weitaus berechtigterer Sorge gefordert werden.

Nur wer sich Illusionen über die nukleare Zukunft hingibt, kann alle Gefahren des Mißbrauchs ausschließen. Die Vision von der perfekten inneren Sicherheit ist ein pures Wunschgebilde.“

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